Arbeitszeitdebatte: Das Kapital geht in die Gegenoffensive

Weniger? Mehr!

Der Kampf um Arbeits- und damit auch um Lebenszeit hat Fahrt aufgenommen. Nachdem die IG Metall die Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich als Ziel für die anstehende Tarifrunde in der Stahlindustrie ausgegeben und so eine Debatte über Arbeitszeitreduzierung weit über die Branche hinaus angestoßen hat, bläst die Kapitalseite zur propagandistischen Gegenoffensive.

Den ersten Aufschlag machte der Präsident der „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ (BDA), Rainer Dulger, in der vergangenen Woche. „Deutschland muss die Ärmel wieder hochkrempeln. Mit niedriger Wochen- und Jahresarbeitszeit, verkürzter Lebensarbeitszeit und zugleich sehr hohen Lohnkosten werden wir Klimawandel, Demografie und Digitalisierung nicht bewältigen“, so Dulger gegenüber der „Bild“. Geht es nach ihm, dann müsste Deutschland sein „verstaubtes Arbeitsrecht flexibilisieren“. „Im Zeitalter der Digitalisierung sollten mehr Arbeitsstunden an einem Werktag möglich sein – wenn diese Mehrarbeit später ausgeglichen wird“, so seine freundliche Umschreibung, die gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit zu entsorgen.

Zeitgleich meldete sich Michael Hüther, Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), zu Wort. Er hält zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche für angemessen. Als Totschlagargument muss mal wieder der „Fachkräftemangel“ herhalten. „Dieser sei schon jetzt ein riesiges Problem – in Zukunft wird es noch schlimmer. Höhere Löhne helfen da nicht weiter, weil es schlicht zu wenige Fachkräfte gibt“, wird Hüther von der „Bild“ zitiert.

Mit zwei Stunden pro Woche gibt sich Gesamtmetall aber nicht zufrieden. Die Kapitalisten der Stahl-, Metall- und Elektroindustrie wollen vier Stunden Mehrarbeit pro Woche. Dabei geht deren Verbandschef Stefan Wolf wie selbstverständlich nicht von der tariflich vereinbarten 35-Stunden-Woche aus. Stattdessen sollen die in der Branche durchschnittlich 38 Stunden pro Woche auf 42 erhöht werden.

Noch schrillere Töne hört man vom Mittelstand-Bundesverband BVMW. Deren Vorsitzender Markus Jerger fordert lautstark, dass weder Gewerkschaften noch der Staat unternehmerische Freiheiten immer weiter einschränken dürfen. Stattdessen müsse sich der Gesetzgeber anpassungsfähig zeigen. Darunter versteht der Verbandsfunktionär, dass bei einer hohen Auftragslage den Betrieben erlaubt sein soll, die Erhöhung der Wochenarbeitszeit direkt mit den Mitarbeitern zu vereinbaren. Weder Betriebsräte noch Gewerkschaften tauchen in seiner Welt als Verhandlungspartner auf.

So viel zur Rhetorik aus dem Unternehmerlager. Doch wie ist es um das Arbeitsvolumen in Deutschland tatsächlich bestellt? Die sicher seriösesten Daten hierzu liefert die Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Hier werden Veränderungen bei den geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von tariflichen Vereinbarungen und konjunkturellen Schwankungen mit dem Wandel der Beschäftigtenstruktur und den Erwerbsformen zusammengeführt. So ergibt sich ein differenziertes Bild von Umfang, Struktur und Entwicklung der Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen.

Das Ergebnis der so erfassten Daten steht im krassen Gegensatz zu den aktuellen Verlautbarungen der Kapitalverbände. Anders als diese behaupten, ist das Arbeitsvolumen im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahresquartal um 0,9 Prozent auf 15,7 Milliarden Stunden angestiegen. Allerdings sank die Stundenproduktivität gegenüber dem Vorjahresquartal um 1,0 Prozent. Gute Gründe, die Arbeitszeit zu reduzieren, statt wie von den Unternehmerverbänden gefordert zu erhöhen. Aber seit wann interessieren sich Kapitalisten für arbeitsmarktpolitische Fakten oder volkswirtschaftliche Argumente?

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"Weniger? Mehr!", UZ vom 16. Juni 2023



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