40 Jahre Kampf um die 35-Stunden-Woche

Weniger ist mehr

Vor 40 Jahren fand der letzte große – gesellschaftlich prägende – Kampf um kürzere Arbeitszeiten statt. Es war ein Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit – um das Kräfteverhältnis und die Deutungshoheit beim Thema Lebenszeit.

Fast sieben Wochen lang streikten die Beschäftigten der westdeutschen Metallindustrie für die 35-Stunden-Woche, 13 Wochen die Kolleginnen und Kollegen der Druckindustrie. Das Ziel wurde zwar nicht erreicht, aber ein Einstieg in kürzere Arbeitszeiten konnte durchgesetzt werden. Dem Kapital wurde damit ein Stück Verfügungsgewalt über die Lebenszeit entzogen. In den 90er Jahren gelang dann in weiteren Tarifauseinandersetzungen die Einführung der 35-Stunden-Woche.

Am 14. Mai, dem Tag des Beginns der Auseinandersetzung in der Metallindustrie 1984, eröffnete eine Ausstellung im Stuttgarter DGB-Haus. Diese wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg in Kooperation mit dem DGB, der IG Metall und ver.di durchgeführt. Heidi Scharf, damals Politische Sekretärin in Heilbronn/Neckarsulm, erläuterte bei der Eröffnung, wie hart der Arbeitskampf geführt wurde. Die Kapitalseite sei unerbittlich gewesen und habe Beschäftigte massenhaft ausgesperrt. Scharf sprach von der Solidarität unter den Beschäftigten, vom breiten Engagement von Kulturschaffenden sowie von der Vorgeschichte des Streiks vor 40 Jahren. Bereits 1978/79 hatten Stahlarbeiter in NRW und Hessen 44 Tage lang für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche gestreikt. Die Kapitalseite erklärte eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit zum Tabu und setzte sich damit vorläufig auch durch. Erreicht werden konnte eine stufenweise Verlängerung des Urlaubs auf sechs Wochen und zusätzliche Freischichten für Nachtarbeiter und Arbeiter ab 50 Jahren. Die 40-Stunden-Woche wurde für weitere fünf Jahre festgeschrieben.

Der Frust bei den Stahlarbeitern war groß. In der IG Metall, aber auch in anderen Gewerkschaften entwickelte sich daraufhin eine große Auseinandersetzung um Arbeitszeitregelungen. Die hohen Arbeitslosenzahlen drückten auf die Löhne – es brauchte dringend eine Umverteilung von Zeit und Geld. Das Tabu musste durchbrochen werden. Schließlich rangen sich IG Metall und die IG Druck und Papier dazu durch, mit der Forderung nach einer 35-Stunden-Woche in eine Tarifauseinandersetzung zu gehen. Der Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit wurde aufgenommen.

Scharf zitierte in ihrer Einführung unter anderem Franz Steinkühler, damals stellvertretender Vorsitzender der IG Metall. Dieser legte zehn Thesen zur Arbeitszeitverkürzung vor. In der neunten These schrieb er: „Der Kampf um die 35-Stunden-Woche ist weit mehr als ein ‚nur ökonomischer‘ Kampf. Er ist ein Kampf um die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Er muss geführt werden von einer durch Arbeitslosigkeit und Krise bereits geschwächten und uneinigen Gewerkschaftsbewegung gegen ein durch die Arbeitslosigkeit bereits gestärktes und einig und geschlossen handelndes Kapital und seine politischen Verbündeten.“

Klaus Zwickel, damals 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Stuttgart, schrieb in einem Buch mit dem Titel „Wem gehört die Zeit“ folgendes: „Durch die Verkürzung der Arbeitszeit werden nicht nur Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, sondern gleichzeitig durch Erweiterung der arbeitsfreien Zeit die Beziehungen der Menschen untereinander verändert. Mehr Zeit für uns selbst, die Familie, mehr Zeit für Freunde, für gesellschaftliche Aufgaben und für Politik ist für die Qualität des Lebens ebenso unabdingbar wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Handlungs- und Entscheidungskompetenz durch mehr Selbstbestimmung innerhalb des Arbeitsprozesses.“

Sybille Stamm, damals in der Bezirksleitung der IG Metall Baden-Württemberg, schrieb vor zehn Jahren: „Die Kämpfe um Zeit sind so alt wie die Arbeiterbewegung (…) Immer waren die Kämpfe um Zeit Klassenkämpfe, in denen das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit neu justiert wurde (…). Im Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche 1984 war die Losung der Frauen: Wir wollen ‚mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen‘. Und manchmal wurde ein ‚Lernen‘ hinzugefügt, denn auch dafür wollten die Frauen mehr Zeit. Das ging weit darüber hinaus, Arbeitslosigkeit mit Arbeitszeitverkürzung bekämpfen zu wollen. Mit der Frauenlosung ertönte plötzlich eine ganz besondere Melodie im Streik, eine Melodie, die das ganze Leben in den Blick nahm.“

Der 6-Stunden-Tag war schon lange das Ziel feministischer Gewerkschaftsfrauen, um eine annähernd gerechte Verteilung aller Tätigkeiten durchzusetzen: Der bezahlten Erwerbsarbeit, der Reproduktionsarbeit und der zivilgesellschaftlichen Arbeit und Zeit für eigene Bedürfnisse.

Scharf kam in ihrem Referat auch auf die aktuelle Bedeutung des Themas Arbeitszeitverkürzung zu sprechen. Viele Betriebe bekämen keine Facharbeiterinnen und Facharbeiter mehr, weil Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen nicht mehr stimmten. Sie würden heute sagen: „Vier Tage mit 30 Stunden bei vollem Lohnausgleich sind genug.“ Der Leistungsdruck sei einfach zu hoch, Arbeit und Leben müssten heute neu justiert werden, so Scharf.

Zum Abschluss der Ausstellungseröffnung blickte Bernd Köhler musikalisch-literarisch auf den Streik zurück. Zur Bedeutung der Kultur in diesem Kampf sagte er: „Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Kulturschaffenden gab es auch eine Auseinandersetzung, die man auch als die größte kulturpolitische Kampagne der bundesdeutschen Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnen kann. Es ging nicht nur um eine tarifpolitische Forderung, sondern um das Leben in seiner Gesamtheit, also unsere Lebenskultur in allen Facetten. Es ging um nicht weniger als um die Verfügungsgewalt über die Zeit, um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und den Zugang zu Bildung und Kultur sowie um die Frage, wer kann sich was leisten und warum nicht.“ Die „hochsensible politisch kulturelle Szene“ habe sich damals selbstbewusst und kreativ in die Kampagne eingeklinkt, so Köhler.

Die Ausstellung kann noch bis zum 9. August im Gewerkschaftshaus in Stuttgart besichtigt werden.

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"Weniger ist mehr", UZ vom 24. Mai 2024



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