Zu den Ethikrat-Empfehlungen

Wen retten?

Wenn Ressourcen knapp werden, stellen sich existentielle Fragen – mit diesen Worten wird Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, im „Spiegel“ zitiert.

Dabei geht es gar nicht um knappe Ressourcen, wie die 600 Milliarden schweren Beschlüsse der Bundesregierung beweisen, sondern um verknappte Ressourcen. Schon 1983 verkündete August von Hayek das Mantra der Gesundheitspolitik im sogenannten Neoliberalismus: „Es mag hart klingen, aber es ist wahrscheinlich im Interesse aller, dass in einem freiheitlichen System die voll Erwerbstätigen oft schnell von einer vorübergehenden und nicht gefährlichen Erkrankung geheilt werden, um den Preis einer gewissen Vernachlässigung der Alten und Sterbenskranken.“

Nun ist das passende Virus dazu aufgetaucht: In der Coronapandemie werden vor allem alte Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen dahingerafft. Bei Jüngeren verläuft die Erkrankung meist weniger schwer, Kinder und Jugendliche bleiben weitgehend, wenn auch nicht vollständig verschont. In allen kapitalistischen Ländern wurden die Ausgaben für das Gesundheitswesen in den letzten 40 Jahren heruntergefahren, die für Kapitaleigner lukrativen Bereiche privatisiert und sind so der öffentlichen Verfügbarkeit entzogen worden. Die damit verbundenen ethisch brisanten Entscheidungen aber werden dem medizinischen Personal aufgezwungen. Sie sollen entscheiden, wer durch Beatmung die Chance zum Weiterleben bekommt, wer an die – seltene – lebensrettende ECMO (künstliche Lunge) darf und wer dem Sterben überlassen wird. In Italien, Spanien und Frankreich ist das schon Alltag in den Krankenhäusern. Die Freiheit, diese Entscheidung nach rein medizinischen Gesichtspunkten zu treffen, um das Leben des Einzelnen mit medizinischen Mitteln zu kämpfen, ist dramatisch eingeschränkt.

Die Vorsitzende des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherungen, Dr. Doris Pfeiffer, hat in einer ZDF-Sendung zur Coronaepidemie erklärt, dass die „notwendigen zusätzlichen medizinischen und pflegerischen Leistungen“ finanziert würden, stehe für die Gesetzlichen Krankenkassen außer Frage. Ziel müsse es sein, zu verhindern, dass Ärzte vor die Situation gestellt würden, das Leben eines Patienten zu retten und dabei den Tod eines anderen in Kauf nehmen zu müssen.

Trotzdem werden sowohl medizinisches Personal als auch die Bevölkerung insgesamt durch die Medien auf die Alternativlosigkeit von Triage-Entscheidungen eingestimmt. Triage ist ein Verfahren aus der Militärmedizin, bei dem die Patienten nach einem bestimmten Algorithmus in fünf Kategorien eingeteilt werden und mit einem Anhänger an der Großzehe oder einem Armband markiert werden. Die Kategorien reichen dabei von „leicht verletzt/erkrankt“, „schwer verletzt/erkrankt“ über „akute, vitale Bedrohung“ bis hin zu „ohne Überlebenschance, sterbend“ und „tot“. In Deutschland gilt als Triage-Kriterium die Überlebenswahrscheinlichkeit, bis jetzt ohne Berücksichtigung des Alters oder der Gewinnung lebenswerter Jahre, mit der Anforderung, so viele Patienten wie möglich zu retten.

Laut Deutschem Ethikrat besteht der ethische Konflikt, auf den alle Beteiligten zusteuern, allerdings in Folgendem: Ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem muss gesichert und zugleich müssen schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft durch die Maßnahmen abgewendet oder gemildert werden. Garantiert bleiben muss ferner die Stabilität des Gesellschaftssystems, so heißt es in „Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise“, den Ad-hoc-Empfehlungen des Deutschen Ethikrats.

Spätestens jetzt müsste endlich die restriktive Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen (DRGs) zugunsten einer Finanzierung der tatsächlichen Selbstkosten für immer ausgesetzt werden. Dann müsste in der nächsten Krise vielleicht auch nicht darüber entschieden werden, wer die besten Überlebenschancen hat und eine angemessene Behandlung bekommt. Stattdessen werden die Ressourcen des Staates für unser aller Gesundheit durch die Rettungsmaßnahmen für das kapitalistische System verknappt.


Monika Münch-Steinbuch hat über 35 Jahre als Narkoseärztin im größten Stuttgarter Klinikum gearbeitet.

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"Wen retten?", UZ vom 3. April 2020



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