Noch ist der digitale Euro nur ein Vorhaben. Aber am 18. Oktober dieses Jahres hat der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschlossen, seine Einführung vorzubereiten. Was ist der Hintergrund dieser Entscheidung und mit welchen Auswirkungen für die europäischen Bürger ist zu rechnen?
„Jein“ zu Digitalwährungen
Das Misstrauen vieler Bürger hinsichtlich der Einführung eines digitalen Euro ist groß. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Vermutungen und Befürchtungen, denn anders als in China liegen bei uns noch keine konkreten Erfahrungen mit Digitalwährungen vor. Dieses Misstrauen wird genährt von der Regierungspolitik seit der Finanzkrise von 2008 und auch durch die Frage nach dem Sinn eines digitalen Euro. Dieser ist für die meisten Bürger nicht nachvollziehbar.
Das ist nicht verwunderlich, waren doch selbst hochrangige Vertreter des westlichen Finanzsystems vor nicht allzu langer Zeit noch skeptisch. So stellten Mitte des Jahres 2020 selbst Geschäftsbanken in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) noch die Frage, „warum der einfache Verbraucher in Zeiten von Echtzeitüberweisungen und kontaktlosen Kartenzahlungen einen digitalen Euro benötigt“. Zudem nutzen immer mehr Menschen das Online-Banking, was Bargeld und den Gang zur Bank fast ganz überflüssig erscheinen ließ. Nicht viel anders war die Einstellung der EZB.
Noch bis Mitte des Jahres 2020 musste die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – also die Notenbank der Notenbanken – „schon fast im Monatsrhythmus die Notenbanken dazu antreiben (…), sich den digitalen Innovationen und Herausforderungen zu stellen“. Man schien also selbst in der Führung der EZB nicht so recht den Sinn eines digitalen Euro zu erkennen. Selbst der Chef der BIZ, Agustin Carstens, war noch im Januar 2021 der Meinung, dass der „Nutzen für Verbraucher als begrenzt“ anzusehen sei und der „E-Euro nur für Banken und Unternehmen“ als Zahlungsmittel sinnvolle Anwendung finden dürfte. Das zeigt, wie viel Unklarheit bis zuletzt sogar in den Spitzen des Finanzsystems über den Sinn einer Digitalwährung herrschte.
Digitaler Euro kommt
Doch dann ging es auf einmal sehr schnell. Schrittmacher waren die Veränderungen im Finanzsystem durch den Bitcoin und die Blockchain-Technologie, die diesem zugrunde liegt. Blockchain und Bitcoin waren nach der Finanzkrise von 2008 als „demokratisches Zahlungssystem“ entwickelt worden, mit welchem dem Staat die Kontrolle über die Privatvermögen der Bürger entzogen werden sollte.
Zudem waren beide gedacht als Absicherung gegenüber Verwerfungen, die man durch die Verschuldung der Staaten und Unternehmen kommen sah, sowie einer Inflation, die man aufgrund der Ausweitung der Geldmengen erwartete. Zusätzlich brachte Mark Zuckerberg, der Chef von Facebook und des Meta-Konzerns, mit dem Libra-Projekt eine private Währung ins Spiel, die sich der Kontrolle durch die Zentralbanken zu entziehen drohte.
Diese wurden nun hellhörig. Denn Libra setzte sich über die nationalen Grenzen hinweg und war als weltweite Währung gedacht, die vornehmlich den privaten Profitinteressen des Meta/Facebook-Imperiums dienen sollte. Mit der Möglichkeit der kostengünstigeren Finanztransaktionen stellte Libra eine Konkurrenz dar für die Geschäftsbanken im Bereich des weltweiten Zahlungsverkehrs.
Anders als beim Bitcoin drohte nun ein Privatunternehmen mit entsprechendem Finanzvolumen, weltweiter Präsenz und hunderten Millionen von Nutzern den Notenbanken selbst den Rang abzulaufen und deren Finanzhoheit infrage zu stellen. So setzte sich in der EU-Kommission dann doch die Ansicht durch, der digitale Euro sei „unabdingbar“: „Ohne einen digitalen Euro würden sich die Digitalwährungen anderer Staaten oder private Kryptowährungen in Europa ausbreiten und die Rolle des Euro zurückdrängen.“ Es geht also um nichts Geringeres als um die Abwehr von Gefahren für „die Selbstbehauptung der amtlichen Geldpolitik“.
Selbst entschiedene Befürworter des Bargelds wie der Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, Robert Holzmann, betrachten die Einführung des digitalen Euro als unausweichlich – er biete ein „Höchstmaß an Sicherheit und Anonymität“. Jedoch sind die Banken in Sorge, dass sie an Transaktionen nicht mehr verdienen würden. Die EZB machte den Geschäftsbanken klar, dass der Digital-Euro nicht ein Problem für sie sei, sondern die Lösung. Denn würde die EZB ihn nicht einführen, täten das private Anbieter – und dann hätten die Geschäftsbanken „gar keinen Anteil an diesem Geschäft mehr“.
Wenn auch die Einführung des digitalen Euro noch nicht beschlossene Sache ist, so ist doch unwahrscheinlich, dass sie noch abgeblasen werden könnte. Dafür sprechen allein schon die bisher getätigten Investitionen und der äußere Druck, der unter den herrschenden Umständen inzwischen entstanden ist.
Zwar hat der Bitcoin durch seine Kurskapriolen der vergangenen Monate an Vertrauen bei den Anlegern verloren. Auch das Projekt Libra wurde mittlerweile von Zuckerberg eingestellt, nachdem Zentralbanken und Regierungen ihm gedroht hatten, dieser Währung die Zulassung zu verweigern.
Inzwischen aber haben sich aus den Fortschritten Russlands und besonders Chinas im Bereich ihrer Digitalwährungen neue Zwänge ergeben. Hinter diese beiden politischen und wirtschaftlichen Rivalen will der politische Westen um alles in der Welt gerade in einem solch zukunftsträchtigen Bereich wie der Digitalisierung nicht zurückfallen.
Überzeugungsarbeit
Entscheidend für die erfolgreiche Einführung des digitalen Euro ist die Überwindung der Widerstände in der Bevölkerung, denn noch immer kann der überwiegende Teil den Sinn einer Digitalwährung für sich nicht erkennen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wächst das Misstrauen, dass hinter der Einführung andere Interessen stehen könnten als die vorgegebenen. Viele Menschen befürchten, dass der digitale Euro der Einstieg sein könnte zur Abschaffung des Bargelds.
Dieses Misstrauen versucht Burkhard Balz, Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank, in einem FAZ-Interview vom 19. Oktober zu zerstreuen. Er stellt klar, dass nicht die EZB über das weitere Vorgehen bestimmt, sondern das Europäische Parlament und der Europäische Rat sowie auch teilweise die nationalen Parlamente. Damit will er dem Eindruck entgegentreten, dass den Bürgern Europas in undemokratischen Prozessen der Wille der Finanzwirtschaft übergestülpt wird. „Am Ende kommt es natürlich darauf an, dass die Menschen den digitalen Euro annehmen. Darum müssen wir für dieses Projekt werben und den Menschen die vielfältigen Vorteile nahebringen.“
Dabei sind die Unterschiede zu herkömmlichen Konten nicht so groß. Der Kunde muss ein Konto haben, auf dem sein digitales Geld liegt und von dem aus seine Transaktionen getätigt werden. Bei den digitalen Währungen nennt sich dieser Aufbewahrungsort Wallet (Brieftasche) und befindet sich als App auf dem Smartphone des Nutzers. „Mit der Wallet kann man online oder kleine Beträge auch offline bezahlen.“ Das bedeutet, dass Übertragungen kleinerer Beträge direkt zwischen den Nutzern von Smartphone zu Smartphone im Offline-Modus „weitgehend anonym erfolgen“.
Größere Beträge werden im Online-Modus überwiesen. Dazu bedarf es einer Identifizierung bei einem Zahlungsdienst. „Der weiß dann, wer die Transaktion tätigt – die Notenbank nicht.“ Anders als beim Online-Banking, das über ein Konto bei einer Geschäftsbank abgewickelt wird, handelt es sich beim digitalen Euro um Zentralbankgeld. Das „bietet die höchste Form von Sicherheit“ gegen Ausfall beim Zusammenbruch einer Bank.
Das Sicherheitsargument kann aber nicht als so schlagkräftig angesehen werden, wie Balz es darstellt, da auch Einlagen bei Geschäftsbanken bis zu einem Betrag von 100.000 Euro durch die Bankensicherung gedeckt sind. Andererseits können die Wallets nach den derzeitigen Plänen nur höchstens 3.000 Euro enthalten. Höhere Beträge müssen wieder bei den Geschäftsbanken eingelegt werden. Damit wird wieder die Bankensicherung wirksam und nicht mehr die Notenbank.
Daraus ergeben sich zwar keine größeren Gefahren für die Sicherheit der Einlagen und die Anonymität des Finanzverkehrs als bei den bisherigen Verfahren, aber größere Vorteile lassen sich auch nicht erkennen, so dass die Frage nach dem Sinn nicht hinreichend beantwortet werden kann. Zumindest ist die Notwendigkeit eines digitalen Euro nicht mit den Vorteilen für den Verbraucher zu erklären.
Auch die Geschäftsbanken fügen sich nur ungern in diese Entwicklung, sehen sie doch ihr Geschäftsmodell beeinträchtigt. Wenn zukünftig Einlagen bis zur Höhe von 3.000 Euro in größerem Umfang bei der Notenbank hinterlegt werden statt bei ihnen, werden ihnen diese Kundengelder zur Kreditvergabe nicht mehr zur Verfügung stehen. Und ein großer Teil der Menschen in der EU verfügt nicht über höhere Rücklagen.
Vorteil Yuan
Angesichts nicht erkennbarer Vorteile, zusätzlicher Kosten für die Einführung des digitalen Euro und der zu erwartenden gesellschaftlichen Spannungen stellt sich die Frage, welche anderen Gründe oder Interessen im Hintergrund wirken. Will man wirklich das Bargeld abschaffen oder verfolgt man gar andere hinterhältige Pläne, wie so manche Verschwörungsanhänger mutmaßen?
Vor der anstehenden Entscheidung über die Einführung des digitalen Euro im Oktober 2023 drängte die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, laut FAZ darauf, „die Eurozone dürfe mit ihrem Vorhaben nicht hinter andere Staaten zurückfallen“. Damit waren unausgesprochen Russland und besonders China gemeint. Diese beiden Staaten sind mit der Entwicklung ihrer Digitalwährungen dem politischen Westen weit voraus.
China macht inzwischen dem politischen Westen in vielen Bereichen der Zukunftstechnologien seine bisher führende Rolle streitig, hat ihn zum Teil sogar schon hinter sich gelassen. Deshalb stellt Balz in der FAZ klar: „Auch wir wollen die Chancen des technischen Fortschritts im Zahlungsverkehr nutzen und in einer digitalen Zukunftswelt gewappnet sein für technologische Optionen, die wir teilweise heute noch gar nicht kennen.“
Man will nicht noch einmal zukunftsträchtige Technologien verschlafen und gegenüber China strategisch ins Hintertreffen geraten. Denn während der Westen noch mit der Blockchain-Technologie fremdelte, um seine Banken zu schützen, hatte China die Vorteile für sich erkannt und frühzeitig zu nutzen gewusst. Digitale Finanzmodelle erleichterten in entlegenen Regionen Chinas mit dünnem Bankfilialnetz den Zugang zu Krediten und die Abwicklung des Warenverkehrs. Damit trugen sie erheblich zur Entwicklung rückständiger Regionen bei.
Die Winterolympiade von 2022 war der chinesische Sputnik-Effekt. Erstmals wurden der Weltöffentlichkeit die Erfolge des Landes in der Digitalisierung seiner Währung vorgestellt, die nicht nur im gesamten Land uneingeschränkt verfügbar war, sondern auch von ausländischen Gästen genutzt werden konnte. Damit war zudem ein erstes griffiges Finanzinstrument vorgestellt worden, mit dem die Überwachung der Handelsströme durch das westliche SWIFT-System außer Kraft gesetzt werden konnte. Das scharfe Schwert westlicher Sanktionen begann stumpfer zu werden.
Damit aber nicht genug. Der digitale Yuan kann auch als Blaupause gesehen werden für andere Währungen zur Umgehung von Sanktionen und zur Ablösung vom Dollar. Immer mehr Länder entwickeln ihre eigenen digitalen Währungen und verknüpfen diese mit China und Russland. Das bedeutet, dass die Digitalisierung von Währungen von China und Russland ausgeht und die Fortschritte anderer Staaten beflügelt.
Auch die Russische Zentralbank hat bereits in diesem Jahr die Einführung des digitalen Rubels bei 13 Banken und mit 600 Einzelpersonen in Angriff genommen. Praktisch bedeutet das laut N-tv, dass „an 30 Verkaufsstellen in elf russischen Städten“ mit der digitalen Währung bezahlt werden kann. Ab 2025 soll sie dann an alle interessierten Russen ausgegeben werden.
Der politische Westen hat Vergleichbares nicht anzubieten. Er versucht mit allen Mitteln, seine Vorherrschaft im analogen Finanzwesen aufrechtzuerhalten. Der Dollar dürfte auf absehbare Zeit weiterhin die beherrschende Welthandelswährung bleiben. Jedoch ist nach den Daten des SWIFT-Systems erstmals der chinesische Yuan im Bereich der Handelsfinanzierung am Euro vorbeigezogen. Wertmäßig wurden „5,8 Prozent aller über das Netzwerk transferierten Handelsfinanzierungen in Yuan abgewickelt. Der Euro dagegen kam im September auf 5,43 Prozent“, war in den „Deutschen Wirtschafts Nachrichten“ zu lesen. Und das sind nur die Abwicklungen im SWIFT-Rahmen.
Diese Entwicklungen machen deutlich, dass die Digitalisierung der westlichen Währungen dringend notwendig wird, sollen Dollar und Euro ihre vorherrschende Stellung behalten. Das ist das wesentliche Motiv der Notenbanken – besonders der EZB, die sonst Gefahr läuft, zwischen dem alten Dollar und den aufstrebenden Digitalwährungen jener Staaten zerrieben zu werden, die bisher unter der Fuchtel der westlichen Währungen und dem Damoklesschwert westlicher Sanktionen leben mussten. Diese Zeiten aber scheinen sich dem Ende zuzuneigen.