Bei den NATO-Thinktanks laufen die Kriegsplanungen auf Hochtouren

Weltkriegsfantasien

Uns läuft die Zeit davon“ – Generalleutnant Alexander Sollfrank, Chef des NATO-Logistik-Kommandos für Europa, hat große Sorgen. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur „Reuters“ Ende vergangener Woche machte er seinem Frust über die gegenwärtige militärische Lage in der Ukraine und die unzureichende Infrastruktur in den NATO-Aufmarschgebieten Osteuropas Luft. Das von Sollfrank geleitete „Joint Support and Enabling Command (JSEC)“ in Ulm hat es mit den typischen Problemen eines expansiven Militärbündnisses zu tun: Die NATO hat sich seit 1990 um 1.000 Kilometer nach Osten erweitert, die Ostflanke weist eine Länge von 4.000 Kilometern auf. Das mache es überaus schwierig, so Sollfrank, in kurzer Zeit Truppen in Divisionsstärke zügig in den Einsatzraum zu verlegen und gleichzeitig den entsprechenden Nachschub an Munition, Treibstoff, Ersatzteilen und Proviant zu sichern. Was nun schnellstens „in Friedenszeiten“ erledigt werden müsse, dafür habe die NATO „im Kriegsfall“ keine Zeit mehr.

Sollfrank liefert damit den Hintergrund für die vom 6. bis 24. November durchgeführte Bundeswehrübung „Blue Lightning“, bei der die Verlegung von militärischem Personal und Gerät von Deutschland an die NATO-Ostflanke im Mittelpunkt stand. Mit 2.800 Soldatinnen und Soldaten sowie 1.200 Fahrzeugen war es das bislang größte Logistikmanöver dieser Art.

Auch Admiral Rob Bauer, Leiter des NATO-Oberkommandos, betonte vor Kurzem, „das Einzige, was wir nicht haben, ist Zeit“. Die Wehklage der NATO-Führungsstäbe über den „Pressure for time“(Zeitdruck) hängt mit der für sie schmerzlichen Erkenntnis zusammen, dass die eigene militärische Strategie gescheitert ist: Die Gegenoffensive, die die ukrainischen Truppen auf die Krim bringen sollte, ist nach ein paar Kilometern steckengeblieben, von der prophezeiten Kriegswende durch westliche Wunderwaffen ist schon lange nicht mehr die Rede, die ausgebrannten Wracks des einstigen Stolzes der deutschen Panzerschmieden sind nur noch für Schnappschüsse in den sozialen Medien gut. Ralph Thiele, früherer Stabschef am „NATO Defense College“, schätzt den Blutzoll auf ukrainischer Seite auf 100.000 Gefallene: „Die Ukraine verbraucht sich. Menschen fliehen. Menschen sterben.“ („FOCUS-Online“)

Der zivile Arm der NATO, die Europäische Union (EU), hat mit zwölf Sanktionspaketen vor allem sich selbst, genauer, ihren Bürgern geschadet, die die Zeche in Form hoher Energie- und Konsumgüterpreise zahlen müssen. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) schrumpfte die deutsche Wirtschaft um 0,5 Prozent, die russische wuchs um 2,2 Prozent. Auch das Projekt einer globalen Isolierung Russlands blieb auf der Strecke.

Es gehört zur DNA der NATO, aus eigenem Scheitern stets nur den einen Schluss zu ziehen: Keinesfalls zurückstecken, sondern das angepeilte Ziel eines militärischen Sieges über Russland und China auf andere Art zu erreichen. „Der globale Krieg ist weder eine theoretische Eventualität noch der Fiebertraum von Falken und Militaristen“, schrieb unlängst zur Einstimmung auf kommende Zeiten der US-Thinktank „Foreign Policy“. Zur effektiven Vorbereitung eines Waffengangs gegen Russland müsse das militärische Patt in der Ukraine so lange wie möglich in einem stabilen Zustand gehalten werden. Denn „nach dem Ende der intensiven Kämpfe in der Ukraine“ bestünde lediglich ein Zeitfenster von „sechs bis zehn Jahren“, um die vorübergehende Schwäche Russlands auszunutzen, heißt es in einer aktuellen Studie der mit 1,56 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt gesponserten „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP).

300.000 Soldaten sollen mit „hoher Verfügbarkeit“ an die Ostflanke verlegt werden, ideal wäre: Die Truppen samt militärischer Infrastruktur „spätestens ein Jahr vor dem Erreichen der russischen Kriegsfähigkeit“ (also nach fünf Jahren) bereitgestellt zu haben. Ein solcher „Quantensprung“ könne nur auf der Basis eines beschleunigten Ausbaus der Bundeswehr und der Rüstungsproduktion gelingen. Einen Unsicherheitsfaktor bei der Erlangung der Kriegstüchtigkeit sieht die Studie der DGAP allerdings: Die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung. Wie „Politik und Gesellschaft im Kriegsfall mit Toten und Verwundeten praktisch und mental umgehen“, müsse durch einen „Mentalitätswandel“ in der Vorkriegsphase sichergestellt werden. Bundes- und Landesregierungen falle dabei die Aufgabe zu, das Militärische zum „Teil des Alltags von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft“ zu machen.

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"Weltkriegsfantasien", UZ vom 1. Dezember 2023



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