Am Tag nach dem griechischen Referendum bat Alexis Tsipras die Vorsitzenden aller im Parlament vertretenen Parteien zum Gespräch beim Präsidenten. In einem waren sich die Vorsitzenden von Syriza und ihres rechten Koalitionspartners Anel, der konservativen Nea Dimokratia, der sozialdemokratischen Pasok und der liberalen To Potami (die Faschisten der Goldenen Morgendämmerung waren nicht erschienen) einig: Das „Nein“ beim Referendum bedeute nicht, dass die Regierung damit ein Mandat habe, den Bruch mit dem Diktat der Gläubiger anzustreben. Es gehe darum, eine neue Vereinbarung zu erreichen, und die Parteivorsitzenden erklärten sich bereit, diese Vereinbarung auch im Parlament zu unterstützen. Die KKE hatte sich diesem Konsens der anderen Parteien nicht angeschlossen.
Als das Parlament am vergangenen Freitag darüber abzustimmen hatte, ob es sich der neuen Erpressung durch die europäischen „Partner“ beugen wolle, zahlte sich diese Einigkeit aus: 251 Abgeordnete stimmten dafür. Fünf Monate nach der Wahl der „Linksregierung“, eine Woche nach dem Sieg des „Nein“ im Referendum blieb als Ergebnis: Mehr Abgeordnete als bei allen vorangegangenen Sparmaßnahmen stimmten für diese neueste Runde der „Reformen“. Der Verlauf des Euro-Gipfels von Sonntag und Montag zeigte, dass das Referendum nicht – wie von der griechischen Regierung versprochen – deren Verhandlungsposition gegenüber den Gläubigern gestärkt hatte. Ein Wolfgang Schäuble lässt sich durch die demokratische Entscheidung eines Volkes nicht beeindrucken, wenn er trotzdem alle Mittel der Erpressung in den Händen hält. Das Referendum hatte aber zumindest vorläufig die Position der Regierung im eigenen Land gestärkt.
Nach der Bildung der Syriza-Anel-Regierung hatte Syriza „rote Linien“ für die Verhandlungen formuliert, zum Beispiel keine Anhebung des Rentenalters und den Stopp der Privatisierungen. In der Zwischenzeit ist von diesen „roten Linien“ nicht mehr viel übriggeblieben, Teile des linken Parteiflügels tragen den Regierungskurs nicht mehr mit – schon bei der Abstimmung am Freitag war Tsipras auf die Unterstützung der bürgerlichen und sozialdemokratischen Opposition angewiesen. Nun hat Tsipras eine „Vereinbarung“ mit den Gläubigern – ob er auch weiterhin eine Regierung und eine parlamentarische Mehrheit hat, muss sich zeigen.
Während in den vergangenen Monaten die Hoffnungen auf Zugeständnisse durch die Gläubiger und auf eine von der Regierung verhandelte Lösung die Stimmung prägten, könnte es nun erneut zu verstärkter Gegenwehr kommen. Für den vergangenen Mittwoch hatte der Gewerkschaftsdachverband für den öffentlichen Dienst, ADEDY, zu einem 24-stündigen Streik aufgerufen – der erste branchenübergreifende, politische Streik gegen Maßnahmen der Syriza-geführten Regierung. Die klassenbewusste Gewerkschaftsfront PAME führte im ganzen Land Demonstrationen durch, sie hatte schon vor Wochen erklärt, dass die Beschäftigten sich auf einen Generalstreik gegen das neue Memorandum vorbereiten müssten.
Die Unterzeichnung dieses neuen Memorandums hatte sich bereits seit Monaten angedeutet, die griechische Regierung war den Gläubigern immer weiter entgegengekommen. Denn das Euro-System und die ganz normale Dynamik des kapitalistischen Marktes bieten diesen genug Möglichkeiten zur Erpressung. Aber: Im Euro zu bleiben und in Verhandlungen mit den „Partnern“ eine Lösung zu finden – das waren tatsächlich rote Linien, die die Syriza-Mehrheit nicht überschritten hat. 2013 hatte Yanis Varoufakis erklärt, dass es unter den gegebenen Bedingungen die Aufgabe der Linken sei, „zu versuchen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst zu retten.“ Zur Erinnerung: Varoufakis war als Finanzminister wegen seiner zu konsequenten Haltung für die Gläubiger unannehmbar.