Seit Monaten streiken die Beschäftigten im Handel. Die Unternehmer sitzen es aus

Weiter so?

Der Tarifkonflikt im Handel ist festgefahren. Seit rund einem halben Jahr verhandeln die Gewerkschaft ver.di und die Unternehmer in regionalen Runden über Gehaltsanhebungen für die gut fünf Millionen Beschäftigten im Handel. Seit April wurde mehr als 60 Mal verhandelt – ohne Ergebnis.

ver.di fordert im Einzelhandel je nach Bundesland entweder 15 Prozent mehr Gehalt oder eine Erhöhung des Stundenlohns um 2,50 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Das Angebot der Unternehmer liegt bei einer Anhebung von insgesamt 10 Prozent in zwei Stufen – allerdings bei einer zweijährigen Laufzeit. Außerdem soll noch eine – nicht tabellenwirksame – Inflationsausgleichsprämie in Höhe von insgesamt 750 Euro gezahlt werden. Ähnlich weit auseinander sind die Standpunkte auch bei den getrennt davon laufenden Verhandlungen für den Groß- und Außenhandel.

Um Druck aufzubauen, ruft die Gewerkschaft ihre Mitglieder seit Monaten regelmäßig zu Arbeitsniederlegungen auf. Teilweise mehr als 10.000 Menschen kamen zu den Streikkundgebungen. Da die zentralen Lager der Handelsketten ein Streikschwerpunkt sind, bemerken die Kundinnen und Kunden in manchen Filialen inzwischen Lücken in den Regalen, die an die Corona-Zeiten erinnern.

Doch die lange Dauer des Konflikts lenkt die Aufmerksamkeit auch auf strukturelle Probleme. ver.di gelingt es nur selten, den Betrieb in Filialen der Modeketten, Lebensmittelgeschäfte, Kaufhäuser oder anderswo spürbar zu stören. Wenn etwa Kunden einen Ausstand bei Galeria Karstadt Kaufhof nur deshalb mitbekommen, weil an der Tür eine Information der Geschäftsleitung hängt, dass man trotz Streik geöffnet habe, dann spricht das nicht für einen erfolgreichen Ausstand. Der Organisationsgrad der Gewerkschaft liegt Medienberichten zufolge im einstelligen Bereich, die Gewinnung neuer Mitglieder wird auch durch erzwungene Teilzeitbeschäftigung, ausufernde Öffnungszeiten und einen hohen Anteil migrantischer Beschäftigter erschwert, die durch traditionelle deutschsprachige Flugblätter kaum erreicht werden können.

Hinzu kommt die regionale Zersplitterung der Tarifrunden, durch die auch in den Bundesländern unzählige Kolleginnen und Kollegen gebunden werden. Früher sollte mit der Regionalisierung der Verhandlungen Rücksicht auf unterschiedliche Lebensbedingungen und Branchenentwicklungen genommen werden. Inzwischen wird der Handel aber nicht mehr von kleinen inhabergeführten Geschäften geprägt, sondern von national und international agierenden Ketten, für die es egal ist, ob ihre Filiale in Berlin oder in Schwäbisch Hall steht. ver.di hat außerdem ein Interesse daran, bundesweit gleiche oder zumindest ähnliche Abschlüsse zu erreichen. In der Folge gibt es eine sehr enge Koordination zwischen den regionalen Verhandlungsführungen – aus den Tarifkommissionen kommen deshalb aber Klagen, dass man sich entmachtet und entmündigt fühle. Entgegen der ver.di-Satzung dürfe man nicht selbst entscheiden, wie man auf Angebote der Gegenseite reagiert.

Der Unternehmerverband HDE nutzt dies nun aus. Einerseits hat er seinen tarifgebundenen Mitgliedern empfohlen, die Entgelte einseitig um 5,3 Prozent anzuheben und präsentiert sich so als die Seite, die die Beschäftigten nicht länger auf höhere Einkommen warten lassen will. Andererseits haben die regionalen Handelsverbände Anfang November alle anstehenden Verhandlungstermine abgesagt und fordern ein Spitzengespräch mit ver.di-Vorstandsmitglied Silke Zimmer. Die gibt sich per Pressemitteilung empört: „Wer Verhandlungen absagt, provoziert Streiks im Weihnachtsgeschäft. Denn die Absage aller Verhandlungstermine im Einzelhandel ist eine Kampfansage an die Beschäftigten und ihre ehrenamtlichen Tarifkommissionen.“

Orhan Akman, der bis Sommer 2022 als ver.di-Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel verantwortlich war, bis ihn die Gewerkschaftsspitze aufgrund seiner kritischen Haltung aus dieser Position und aus dem gesamten Fachbereich drängte, hatte schon im vergangenen Januar auf die komplizierte Situation der Tarifpolitik im Handel hingewiesen. In einer Analyse auf seiner Homepage warnte er unter anderem, dass die Tarifverträge kaum noch Wirkung entfalteten, weil immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung flüchteten: „Unsere Handels­tarifverträge gleichen einem alten, verkommenen Haus, in dem fast niemand mehr wohnt. Weder Beschäftigte sind unter dem Dach dieses Hauses sicher, noch findet man die Mehrheit der Unternehmen der Branche wieder. Im Gegenteil, das Haus bröckelt, die Beschäftigten stehen im Regen und die Unternehmen flüchten scharenweise aus diesem (Tarif-) Haus.“ Es reiche deshalb nicht, dieses Haus „teuer zu tapezieren“, es müsse neu aufgebaut werden. Angesichts der Konzentrationsprozesse in der Branche sprach er sich für bundeseinheitliche Tarifverträge für den gesamten Handel aus.

Von den Verantwortlichen bei ver.di wurden und werden diese Vorschläge demonstrativ ignoriert. Dabei könnte ein solcher Strategiewechsel jetzt die Kampfkraft der Gewerkschaft im Handel konzentrieren und stärken.

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"Weiter so?", UZ vom 17. November 2023



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