„Antigone“ setzt auch heute noch Maßstäbe

„Weiß nicht, wohin ich gehen soll!“

Doch nicht für Gut und Böse gleiches Recht!“ verteidigt König Kreon seine Entscheidung, den einen der zwei Brüder Antigones, der sich mit anderen Heerführern gegen seine Heimatstadt Theben verbündet hatte und in diesem Kampf durch seinen Bruder fiel, nicht zu begraben. Eteokles, der für die Stadt Theben kämpfte, bekommt dagegen ein ehrenvolles Begräbnis. Antigone protestiert als einzige gegen Kreons Befehl. Sie will ihren Bruder nicht der Natur überlassen und begräbt ihn, obwohl sie weiß, dass sie dafür sterben wird. Antigone fordert „gleiches Recht“. Antigones Schwester, Ismene, warnt Antigone vor dem Kampf mit Kreon: „Bedenke, Schwester, dass wir Frauen sind.“

Frauen und Sklaven waren in der Polis, dem antiken griechischen Stadtstaat, ohne Rechte. Antigone fühlt sich mit den „Unteren“, den „unterirdischen“ Göttern, verbunden. Kreon, der sich auf die „Oberen“ (Zeus) beruft, scheint der starke Mann zu sein. Er besiegte mit seinem Gesetz und seiner Moral die Angreifer Thebens. Antigone kämpft allein für eine menschliche Ethik, die in die Zukunft sozialer Verhältnisse weist. Ihr Einsatz offenbart bereits den Untergang der griechischen Sklaverei. „Nicht Hass! Liebe ist der Frau Natur! Die nur mit Worten lieben, lieb ich nicht.“

Antigone will mehr als nur Gerechtigkeit. Indem sie Menschlichkeit fordert, wächst sie zum echten Individuum (lat. das Unteilbare). Doch Kreon, der erst am Ende seines Lebens merkt, dass er sich als Machtmensch von der Menschheit entfremdet hat, tritt der großen Individualität Antigones zornig gegenüber. „Solang ich lebe/Soll kein Weib regieren!“ Am Ende zweifelt auch Kreon an seiner Moral, die nicht mehr den sozialen Verhältnissen entspricht. Er tritt verzweifelt vor sein Volk: „Weiß nicht, wohin ich schaun soll, wohin ich gehen soll? Wohin?“
Die „Antigone“ des Sophokles (496–406. v. u. Z.) ist 2.500 Jahre alt. Trotzdem fehlt das Drama auf kaum einem Spielplan europäischer Theaterbühnen. Warum bloß? Glauben wir, wie Antigone, genau zu wissen, was wir wollen? Was fasziniert uns an Antigone so sehr? Ist es ihr Individualismus?

Kreon wie Antigone ziehen uns gleichermaßen in ihren Bann. Wir fragen uns doch auch: Wie wollen wir unser Leben führen? Wohin führt es uns? Aber wir suchen, gebremst von Alltagsnöten, selten nach Antworten, die über unsere eigene Existenz hinaus weisen, also gattungsmäßig orientiert sind. Bedingt durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die im Kapitalismus zur Vereinzelung von Anbietern der Ware Arbeitskraft führt, wachsen zwar einerseits die Möglichkeiten gattungs- und nicht konkurrenzmäßiger menschlicher Beziehungen, aber sie werden durch partikulare Profitinteressen entfremdet. Was dazu führt, dass wir glauben sollen – ideologisch perfekt manipuliert – individualistischer zu sein als Antigone. Dabei ist es, wie Lukács sagt, „unzweifelhaft, dass eine heutige durchschnittliche Stenotypistin über einen größeren Möglichkeitsspielraum verfügt als Antigone“, und doch sei es für keinen „Augenblick zweifelhaft, dass in der Persönlichkeitsentwicklung, in der Entwicklung der wahren menschlichen Gattungsmäßigkeit jener gar keine, dieser eine sehr positive und wichtige Rolle zukommt.“

In Antigone lebt nicht nur ein partikulares Ich, das auf „individuelle Freiheit“ pocht. In ihr lebt ein bewusstes gesellschaftliches Subjekt. Sie rebelliert gegen eine Moral, die nicht mehr den sozialen Verhältnissen entspricht. Was also fasziniert uns an Antigone? Es ist ihr Mut, das zu tun, was getan werden muss, um die inneren Widersprüche, die das gesellschaftliche Sein bereits reif entwickelt hat, zum Tanzen zu bringen. Die Gesetze in der Natur, die wir Menschen in vielerlei Hinsicht bestens erkannt und einer klassenmäßig bestimmten Zielsetzung geopfert haben, schufen objektive Möglichkeiten, dass aus partikularen, von Konkurrenz geplagten Menschen echte Persönlichkeiten werden könnten, wenn die Zielsetzung in der Arbeit, die ja stets mit und in der Natur geschieht, nicht von den Profitinteressen vereinzelter Monopolisten bestimmt würde.

„Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen“, sagt Marx, „das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden.“ Antigone ist in diesem Sinne bewusstes Individuum. Sie überzeugt uns, aber wollen wir ihr in unserem Alltag nacheifern? Sicher sehnen sich die meisten modernen Menschen nach einem Leben in Liebe, so wie Antigone, ohne Hass, ohne Konkurrenz, ohne Neid. Sie könnte Vorbild sein. Sie stritt schließlich mit Kreon über Gesinnung und Verantwortung, die der einzelne Mensch in der Gemeinschaft zu übernehmen hat. Anders als die sozialen Beziehungen zur Zeit Antigones, wo die gesellschaftliche Arbeit von Sklaven und Frauen geleistet wurde, ist die Arbeit heute zu einer allgemeinen Form dieser Beziehungen geworden. Selbst der Bourgeois arbeitet. Er ist Anhängsel der Dynamik seiner Kapitalverwertung und organisiert zu diesem Zweck Manager, Juristen, Ingenieure, Wissenschaftler, Künstler, PR-Werbeexperten, deren Ziel es ist, Naturgesetze zu erforschen und Menschen so zu manipulieren, dass sie im Sinne des Kapitalismus funktionieren.

Antigone stand am Anfang der menschlichen Vorgeschichte, sie zeugt vom kindlichen Wunsch, ganz eins zu sein mit der Gattung. Wir sind heute in der Vorgeschichte weit fortgeschritten, aber um in die eigentliche Geschichte als Subjekt eintreten zu können, bedarf es einer Bewusstheit für eine Ethik, die sich nicht auf die einzelne Tat, Gesinnung und Verantwortung beschränkt, sondern im Primat der gesellschaftlichen Entwicklung ihre Wurzeln pflanzt. So entwickelt sich ein subjektiver Faktor, der als solcher erkennbar wird, indem er bewusst Ziele setzt, die die Kausalreihen des Gesamtprozesses gattungsmäßig zu beeinflussen versuchen. Da das Individualleben immer gleichzeitig auch Gattungsleben ist und umgekehrt, dass Gattungsleben aus vielen Zielsetzungen der Individualleben entsteht, kann der subjektive Faktor nur wachsen, wenn sich das Einzelne mit dem Allgemeinen verbindet.

Natürlich entwickelten sich im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten des Kapitalismus auch Persönlichkeiten. Dabei können die großen Künste, die Philosophie und vorbildhafte Persönlichkeiten helfen. Sie vermitteln Bewusstheit und Selbstbewusstheit, lehren den Einzelnen, in Erkenntnis der konkreten inneren Widersprüche der Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.

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"„Weiß nicht, wohin ich gehen soll!“", UZ vom 19. Februar 2021



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