Ein Roman über Chiles Experiment mit der Kybernetik

Wein, Empanadas, Technik

Hans Everding hat es nach Hause geschafft. Dort wartet er nun, voller Angst. „Es würde sich nicht ankündigen. Die Soldaten würden in der Nacht kommen oder am frühen Morgen, sie würden nicht klopfen. Ich malte mir aus, wie sie mich aus dem Haus schleifen und auf die Ladefläche eines ihrer Trucks prügeln würden. Ich stellte mir vor, wie ein Gewehrkolben meinen Kiefer bräche, fuhr mit der Zungenspitze über die Stelle, wo ein Zahn gewesen sein würde.“ Es ist der 11. September 1973 in Chile, draußen wird geschossen und Hans Everding ist Designer beim Projekt CYBERSYN.

Sascha Rehs 2015 erschienener Roman „Gegen die Zeit“, in dem Hans Everding die Hauptrolle einnimmt, wirft Leserinnen und Leser direkt mit der ersten Seite in den Horror des Putsches gegen die Regierung Allende und zeigt gleichzeitig wie nebenbei auf, wie der Putsch vorbereitet wurde. Denn Hans‘ Vermieterin ist natürlich schon schön weit weg an diesem 11. September. „Sie hatte am ‚Marsch der leeren Töpfe‘ teilgenommen, der scheinheiligen Proteste gegen die Mangelwirtschaft, vorgebracht von jenen, die die Lebensmittel in den eigenen Kellern und Garagen horteten: den Momios.“

Reh lässt seinen Roman vor und nach dem Putsch spielen, zurück bis nach Frankfurt und Ulm, wo Hans Everding Produktdesign studiert hat, bevor er über ein Angebot des Entwicklungsministeriums nach Chile gekommen ist. Damit gibt sich Reh selbst die Möglichkeit, die Studentenbewegung in Deutschland zu entlarven und sie – auf dem Entwicklungsweg Hans Everdings – dem tatsächlichen Aufbruch Chiles gegenüberzustellen.

Everding soll in Santiago de Chile Produktdesign an einer Universität lehren – das Fach selbst ist noch jung und die wenigen gut ausgebildeten Fachleute haben nach der Wahl Allendes das Land verlassen, um woanders das große Geld zu verdienen. Doch gerade jetzt ist Erfindungsreichtum gefragt, denn es herrscht Mangel an fast allem. Und so designt Hans unter anderem Landmaschinen, Mobiliar, Konsumgüter und einen Messlöffel für Allendes Milchprogramm, der es selbst Analphabeten ermöglicht, Kindernahrung mit der richtigen Dosierung herzustellen und damit dazu beiträgt, Kinder vor Mangelernährung zu bewahren.

Als Hans Everding schließlich Alfonso Acuña kennenlernt und Teil des Team CORFO wird, ist er endgültig angekommen in Chile und in der Revolution, die – wenn es nach Präsident Salvador Allende geht – nach „Wein und Empanadas“ schmeckt.

Denn das Team CORFO soll die chilenische Wirtschaft inmitten der Erdrosselung durch den Imperialismus (so war Chile zum Beispiel nach der Verstaatlichung der Kupferminen vom weltweiten Handel mit dem Metall ausgeschlossen worden) retten, indem sie sie koordiniert – mit der Hilfe von Kybernetik.

Dabei bekommen sie die Hilfe des Engländers Stanley Baud. In der ersten Sitzung des Teams erklärt der Unternehmensberater sein Ziel für die chilenische Wirtschaft: Keine Planwirtschaft, denn „so wenig mein Modell die Menschen zu Konsumsklaven machen will, so wenig sollen damit ihre vitalen Bedürfnisse der Willkür von Bürokraten unterworfen werden. Es will stattdessen nichts anderes sein als ein Instrument, das ein hochkomplexes, multikausales und gleichzeitiges Geschehen kontrollierbar macht, so dass möglichst viele Menschen einen Nutzen davon haben. Dieses Instrument interessiert sich nicht für Profit, sondern nur für Effizienz.“ Was nicht nur für Hans Everding wie reine Science Fiction klingt, wird von dem Team bald als Science Fact betrachtet, denn möglich ist es, auch unter den widrigsten Umständen (Computer sind zum Beispiel zwingende Voraussetzung für die gleichzeitige Verarbeitung von Informationen, in ganz Chile gibt es aber nur vier). Das Team um Alfonso Acuña und Stanley Baud greift zu Tricks und Kreativität, vereinfacht Zahlen zu Diagrammen und verlangt nach Designs, die intuitiv zu bedienen sind, in denen die Form der Sache und dem Menschen dient. Und so entwirft Everding für die Zentrale des Teams den Ops-Room, einen verrückten Traum aus Fiberglas, der Stanley Kubrick vor Neid hätte erblassen lassen. Die Zukunft wird greifbar. Und dann ist da auch noch Ana.

Mit ihr geht Everding tanzen, hört die Rede Fidel Cas­tros bei seinem Staatsbesuch und wünscht sich vieles mehr. Zu einigem kommt es erst, als es schon zu spät ist.

Schon allein mit dem Titel „Gegen die Zeit“ deutet Reh auf die verschiedenen Ebenen des Romans hin. Gegen die Zeit müssen Dinge versteckt werden, bevor die Putschisten sie finden, muss die Wirtschaft wenigstens in Grundzügen am Laufen gehalten und das Kybernetikprojekt realisiert werden. Gegen die Zeit wird aber nicht nur das Sterbende verwaltet, sondern auch der Versuch gemacht, etwas Neues aufzubauen.

Reh springt zwischen Everdings Erinnerung aus der heutigen Zeit und dem, was er in Verhören zu erzählen gezwungen ist. Es ist die Geschichte von Erfindergeist, Technik und Aufbruchstimmung, eine von Egoismus in Zeiten, die bedingungslose Solidarität erfordern. Eine Geschichte von Liebe und Verrat und – wenn man die blinde Zerstörungswut der Reaktion betrachtet – auch eine Geschichte von Dummheit und Hass.

Vor allem aber ist es in ihren Grundzügen die wahre Geschichte des Projekts CYBERSYN. Mit Alfonso Acuña, Stanley Baud und Hans Everding begegnen wir Fernando Flores, Stafford Beer und Gui Bonsiepe in ihrer literarischen Gestalt. Ob die Liebesgeschichte und die Einzelheiten stimmen, tut nichts zur Sache. Denn gemein haben historische und literarische Figuren die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die sich durch Jahrzehnte, trotz Trauer, Verrat und Folterkeller, auf die Leser überträgt.

Sascha Reh
Gegen die Zeit
Schöffling Verlag, 360 Seiten, 21,95 Euro
Erhältlich unter uzshop.de

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"Wein, Empanadas, Technik", UZ vom 15. September 2023



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