Die stellvertretende Teamleiterin bei der Morgen-Info hat dunkle Ringe unter den Augen. „Ich weiß, viele von euch gehen mit Schmerzmitteln schlafen – ich auch“, sagt sie. Die Kollegen stehen ihr gegenüber im Halbkreis und wissen nicht, was sie tun sollen angesichts der ständigen hohen Arbeitsbelastung. Ihre direkte Vorgesetzte ist nicht der Gegner, auch wenn sie seine Interessen jetzt in diesem Moment vertritt. Und klären kann man das hier auch nicht. Also ballen sie die Faust in der Tasche und schweigen.
„Starkverkehr“, so heißen bei der Post die Wochen direkt vor Weihnachten, in denen besonders hohe Mengen an Paketen und Warensendungen durch die Paketzentren in die Zustellung laufen. In diesen Wochen ist die Belastung der Paket- und Briefzusteller besonders hoch. In der Corona-Pandemie ist der Starkverkehr zum Dauerzustand geworden, der nunmehr schon mehr als ein Jahr anhält. Der Post bringt dies eine immense Steigerung des Profits. Das ist allerdings kein Grund für das Unternehmen, mehr Personal einzustellen oder eine bessere Ausstattung anzuschaffen. Und: Mitten in diese Zeit fiel die Neubemessung der Zustellbezirke in vielen Niederlassungen. Dabei kamen Straßen hinzu, das bedeutet vor allem bei der morgendlichen Sortierung der Post eine zusätzliche Belastung.
Betriebsräte berichten von einer schnelleren „Zurruhesetzung“ vor allem von Beamten des „einfachen Dienstes“, wegen „Dienstunfähigkeit“. Sie können sich nicht mehr vorstellen, in diesem Bereich zu arbeiten, und gehen deshalb in Rente. Die Post wiederum ist froh über jeden Beamten, den sie loswerden kann. Ein Zusammenhang mit den ständig wachsenden Bezirken liegt nahe.
Angeblich können, so das Unternehmen, derzeit keine Jobs im einfachen Dienst angeboten werden. Geht man allerdings morgens durch einen Zustellstützpunkt, an dem die Post sortiert und die Zustellung vorbereitet wird, fällt auf, wie viele Kräfte fehlen. Vor allem an sogenannten Vorverteilkräften mangelt es. Sie müssen die nach Leitzahlen vorsortierten Postsendungen auf die Bezirke verteilen. Schaffen sie die Arbeit nicht, helfen häufig Zustellerinnen und Zusteller oder Azubis aus. Von dieser Kollegialität unter den Beschäftigten profitiert aber das Unternehmen, weil so gewährleistet wird, dass es trotz Personalmangels zu keinen Verzögerungen im Betriebsablauf kommt – und der Rubel rollt.
Ähnlich funktioniert es bei den eingespielten Teams in der Zustellung: Viele helfen sich untereinander, wenn Zustellbezirke sonst nicht zu schaffen sind. So verteilen sich die Überstunden und nicht eingehaltenen Pausenzeiten auf die Kolleginnen und Kollegen. Die Arbeitsverdichtung führt dazu, dass die Zustellerinnen und Zusteller richtiggehend durch den Zustellbezirk rennen, um das Pensum zu schaffen. Das Unternehmen profitiert vom „Arbeiterstolz“, der positiven Haltung zum Gebrauchswert der eigenen Arbeit, und von der Kollegialität unter den Kolleginnen und Kollegen. Die Beschäftigten ringen darum, dass es kaum „Abbrüche“ gibt – also keine Einstellungen der Zustellungen zum Ende der Dienstzeit, die für die Post Geldeinbußen bedeuten würden.
Der Grund dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen so kämpfen müssen, ist die Einsparpolitik, die der Post steigende Profite sichern soll. Seit der Privatisierung in den Jahren von 1989 bis 1998 wurde in einzelnen Niederlassungen, wie Kollegen vor Ort berechnen können, ein Drittel der Beschäftigten eingespart. Steffen Stierle berichtete in der „jungen Welt“ von 173.000 weggefallenen Stellen im Zeitraum von 1989 bis 2006. Massiv werden Befristungen, Teilzeit- und Minijobs eingesetzt.
Die Gewerkschaft ver.di nennt das Vorgehen „Steuerung über Ergebnisse“ oder „indirekte Steuerung“: Den Arbeiterinnen und Arbeitern werden wenige formale Vorgaben gemacht, vielmehr wird die „Eigenverantwortung“ ausgenutzt, um den Beschäftigten bestimmte Leistungen unter Bedingungen abzuverlangen, die sie nicht beeinflussen können. Mit diesem Thema befassen sich unter anderem das 2019 erschienene Buch „Das unternehmerische Wir“, eine aktuelle Studie zur Arbeitsverdichtung (siehe ver.di-Publik 2/2021), und die aktuelle Ausgabe des Jahrbuchs „Gute Arbeit“ (2021). Zwei gewerkschaftliche Strategien sind zu beobachten: Die einen nehmen die „indirekte Steuerung“ als Möglichkeit der Selbstverwirklichung an und wollen sie verbessern, die anderen setzen auf den Aufbau kollektiver Strukturen vor Ort, um Gegenmacht entfalten zu können. Letztere Vorgehensweise ist der Anknüpfungspunkt für die Kommunistinnen und Kommunisten im Betrieb.