Zum 90. Geburtstag von Thomas Metscher

Wegweiser zu einer besseren Welt

Geboren wurde Thomas Metscher am 30. Juli vor neunzig Jahren – nur ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers – als Sohn eines Fischhändlers bei Potsdam. Die Kindheit im faschistischen Deutschland, die Hitlergegnerschaft seines Vaters sowie die frühen Nachkriegsjahre prägten ihn nachhaltig. Ebenfalls bedeutsam für seinen Werdegang war die Liebe seines Vaters zur (Welt-)Literatur, zum Theater Max Reinhardts, sein Humanismus, sein Pazifismus und Atheismus. Zu den Lieblingsautoren gehörten im Hause Metscher neben Lessing und Schiller auch Shakespeare, die großen Autoren der realistischen Romane der Weltliteratur und der kritisch-satirischen Dichtung, insbesondere Tucholsky und Ossietzky.

Bis zur zehnten Klasse besuchte Thomas die Oberschule in Potsdam (wo er auch einen Russischpreis erhielt, er kann bis heute noch russische Lieder singen). Danach zog die Familie aus beruflichen Gründen noch in den späten vierziger Jahren in den Berliner Wedding, wo Thomas das Abitur, danach ein Studium der Germanistik und Anglistik absolvierte. Mitte der fünfziger Jahre erfolgte die Begegnung mit der Philosophie, die daraufhin für den Menschen und Wissenschaftler Metscher eine existenzielle Stellung einnahm. Die Bekanntschaft mit dem Marxismus erfolgte jedoch an keiner Universität, sondern im Selbststudium, herbeigeführt durch die Lektüre von Lukács, danach Brecht und später Bloch und Gramsci. Auf dem Anti-Atom-Kongress in Berlin 1958 lernte Metscher Günter Anders und Wolfgang Fritz Haug kennen. Erste Veröffentlichungen datieren aus dieser Zeit.

Eine bedeutsame Lebensphase begann mit einer Lektorenstelle in Belfast, die er bereits 1961 antrat. Zehn Jahre sollte er in Belfast bleiben. Hier lernte er seine Frau Priscilla kennen und promovierte in Heidelberg bei Prof. Rudolf Sühnel zum Stil des irischen Dramatikers Sean O’Casey. Sein damaliger Kollege Tony Williams erinnert sich: „Du hast das Denken vieler Menschen beeinflusst, auch das meine. Ich erinnere mich besonders an unsere Diskussionen über Schiller und Kafka, durch die ich diese Autoren in einem neuen und interessanten Licht zu sehen lernte. Ich erinnere mich auch an die lautstarken Fußballspiele in meinem Büro im obersten Stockwerk.“ Von 1971 bis 1999 hatte Metscher im Anschluss bis zu seiner Emeritierung eine Professur an der Universität Bremen inne.

Während seiner Belfaster Zeit begann Metschers Beschäftigung mit der irischen Geschichte, insbesondere mit Republikanismus und der Arbeiterbewegung, sowohl aus persönlichem Interesse als auch im Rahmen seiner Dissertation. Gemeinsam mit seiner irischen Frau, die er am German Department kennengelernt hatte, entdeckte er den in Deutschland wenig bekannten Arbeiterführer, Marxisten und Theoretiker James Connolly. Connolly, ein organischer Intellektueller im Sinne Gramscis, war einer der ersten, der das Verhältnis von antikolonialem Kampf und sozialer Revolution sowohl theoretisch als auch praktisch behandelte. Er wurde als Anführer des Osteraufstands von 1916 von den Briten hingerichtet.

Connollys Werk „Labour in Irish History“ las Metscher, während er über die Dramen von O’Casey nachdachte. Diese Lektüre ließ ihn erkennen, dass der nationale Gedanke auch progressive, demokratische und sozialistische Aspekte beinhalten kann – im Gegensatz zu den meist chauvinistischen und reaktionären Auffassungen, die er aus Deutschland kannte.

In Irland kam Metscher auch erstmals mit der organisierten Arbeiterbewegung in Kontakt und damit mit der Praxis politischer Kämpfe, eine Erfahrung, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland vertiefte. Diese Einsichten prägten seine intellektuelle Grundorientierung und deren praktisch-politische Konsequenzen stark. Besonders einprägsam war für ihn Marx’ kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes und verächtliches Wesen ist“. Diese Orientierung ist tief in seinem Bewusstsein verankert und bestimmt seither seine wissenschaftliche wie auch persönliche Haltung.

In Belfast begann auch Metschers Beschäftigung mit „Faust“, wo er ein Seminar zu „Faust und die Ökonomie“ leitete. Die Faszination dieses komplexesten Werks der uns bekannten Weltliteratur ließ ihn nie wieder los und kulminiert in diesem Sommer in der Herausgabe seines in Deutschland einmaligen Faustbuches „Faust und die Dialektik“ beim Mangroven-Verlag. In diesem Werk legt Metscher dar, wie der Widerspruch für „Faust“, dem Lebenswerk des größten Dialektikers unter den deutschen Dichtern, ästhetisch konstitutiv ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Interpretation ergeben. Metscher geht dabei neue Wege, stellt neue Fragen in der „Faust“-Rezeption.

Seinen Ursprung in Irland nehmend, taucht bei Metscher immer wieder das tiefe Verständnis für die irische Kultur auf. Er erkannte als erster Literaturwissenschaftler, dass Swift die irische Nationalliteratur in englischer Sprache begründete, indem dieser als Autor aus der Aszendenzklasse vom Standpunkt des irischen Volkes schrieb. Das belegte Metscher an dessen literarischen Texten und vor allem an „Gullivers Reisen“. In einem selten veröffentlichten dritten Teil des Romans, der sich mit einem Besuch auf der fliegenden Insel Laputa („Die Hure“) und dem benachbarten Kontinent beschäftigt, thematisiert Swift „Aufstände“. Der König der fliegenden Insel beherrscht den versklavten Kontinent darunter. Er straft die Einwohner mit Hungersnöten, Krankheiten und der Androhung von Steinabwürfen, die seine eigene Insel gefährden könnten.Widerstand und Aufstände als Folge kolonialer Unterdrückung sind also aus Sicht Swifts zu erwarten. Ein kolonialer Krieg könnte mit der Zerstörung der letzteren oder beider Seiten enden. Swifts Sympathien liegen eindeutig bei den „stolzen Menschen“ von Lindalino (Dublin). Mit seinem Gleichnis einer irischen Revolution nimmt Swift die nationale Befreiung der Kolonie vorweg, impliziert die Zerstörung der unterdrückenden Insel, die Tötung des Königs und eine Umwälzung der Regierung. So vorausschauend war Swift in den 1720er Jahren. So relevant ist er noch heute.

Die Freilegung von historischem Verständnis und heutiger Relevanz bestimmt Metschers literaturwissenschaftliche Arbeit durchgehend. Auch Shakespeare nimmt lebensbegleitend einen zentralen Stellenwert in Metschers Denken und Forschung ein – wiederum von einem innovativen marxistischen Herangehen geprägt. Er arbeitet heraus, dass es bei Shakespeare um die Entdeckung der Welt und des Menschen, geht, um die Entdeckung von Geschichte und Geschichtlichkeit, die Erkundung geschichtlicher Weltpotentiale zwischen Katastrophe und Utopie. Mensch und geschichtliche Welt werden nicht getrennt, sondern als Zusammenhang begriffen – die Menschen als geschichtliche Wesen agieren in einem historischen Prozess. Den Kern seiner Welterkundung bildet die Praxis menschlichen Lebens und die Fähigkeit der Kunst, das Wesen der Zeit zu erkennen und durch ihre Darstellung begreifbar zu machen. Durch das tiefe Erfassen seines Zeitalters, der frühen Epoche des Kapitalismus, vermittelt Shakespeare noch heute gültige Aussagen über das Wesen unserer Zeit. Fort ist die mittelalterlich feste Weltordnung. Die Welt, die seine Dramen erkunden, ist eine offene, unabschließbare, sich stets verändernde Welt. Seine Komödien enthalten zunehmend utopische Elemente: die Befreiung des gequälten Lebens und die Möglichkeit von Freiheit und Erlösung. Außerdem erahnt man die Kräfte, die eine solche Entwicklung tragen könnten.

Ebenso auf Veränderung und Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist Metschers philosophisches Denken. In seinem Werk „Integrativer Marxismus“ (Mangroven 2017) untersucht er das Zukunftspotenzial des Marxismus und stellt diesen als eine philosophisch fundierte Wissensform dar, die auf eine umfassende Erkenntnis der Welt abzielt und letztlich deren Veränderung anstrebt – hin zu einer Gesellschaft ohne Angst, Hunger und Gewalt. Dieser transformative Anspruch des Marxismus kann jedoch nur durch eine Form erfüllt werden, die sämtliche Felder menschlichen Wissens einbezieht und die gesamte menschliche Erfahrung integriert. Ein solcher Marxismus schließt somit die Kunst in all ihren Formen ein, gestärkt durch die materialistische Dialektik, die Kritik und Negation wie auch Integration und Synthese umfasst. „Integrativer Marxismus“ versucht, diese umfassende Perspektive auf verschiedene Wissensgebiete und theoretische Formen anzuwenden. Metscher entwickelt mit dieser und anderen Schriften den Marxismus notwendig weiter.

Sein spezielles Augenmerk gilt auch der Entwicklung der Kultur im imperialistischen Zeitalter. In der bislang noch unveröffentlichten Schrift „Imperialismus und Kultur“ untersucht Metscher die Entwicklung und den Zustand kultureller Verhältnisse im Imperialismus als Krisenzustand der aktuellen Welt, der Menschen sowie kulturelle und ideologische Verhältnisse deformiert und zerstört. Die Künste dienen dabei als genaue Indikatoren des kulturellen Zustands. Unter diesen imperialistischen Bedingungen der Zerstörung, betont Metscher, gibt es keinen Ausweg durch Reformen, sondern nur durch konsequenten Widerstand mit dem Ziel, eine neue Kultur in sozialistischer Perspektive aufzubauen. In diesem Text argumentiert Metscher, dass die Welt unter imperialistischen Bedingungen zukunftslos und von Selbstzerstörung geprägt ist. Die Künste sind sowohl in die Zerstörung einbezogen als auch Orte des Widerstands gegen Herrschaft und Deformation. Erwähnenswert, dass sich Metscher in diesem Zusammenhang auch mit Musik und Malerei befasst, sie ebenso verinnerlicht wie das geschriebene Wort. Mozart, Schostakowitsch, Goya stehen für viele.

So wenig wie man Metschers wissenschaftliche Interessen von seinen persönlichen trennen kann, kehren wir zum Abschluss dennoch zu der Privatperson Thomas zurück. Kein Porträt wäre ihm annähernd angemessen, fehlte seine Leidenschaft für das Bergsteigen. Bereits als Abiturient fuhr Thomas mit Freund Günter Baron zum ersten Mal in den Sommerferien von Berlin aus in die Alpen. Die Berge hinterließen auf ihn einen so starken Eindruck, dass er im Folgejahr einen Kletterkurs absolvierte. Danach entwickelte er eine Leidenschaft, die bis ins Alter anhielt. Geklettert ist er unter anderem in den deutschen, österreichischen und Schweizer Alpen, in den Dolomiten und in Norwegen. Gemeinsam mit seinem Kletterfreund Udo Wilkening kam es in Südnorwegen sogar zu einigen Erstbegehungen, also Kletterrouten, die von niemandem vorher begangen wurden und wo Name und Schwierigkeitsgrad festgelegt werden. Die Routen, die Thomas und Udo begingen, nannten sie „Via Lara“ (nach Udos Tochter) und „Weg der Lemminge“. Interessierten Zuhörern erzählt Metscher gern, dass er die Watzmann-Ostwand fünfmal bestieg, zweimal solo. Auch ein schwerer Bergunfall 2009 in den österreichischen Alpen, bei dem er zehn Brüche davontrug, konnte ihn nicht vom Klettern abhalten. Als Höhepunkt seiner Klettererlebnisse bezeichnet Thomas die Piz-Badile-Nordwand in den Schweizer Alpen, die er 1988 mit Udo erklomm. Beide hatten Stirnlampen vergessen, Udo hatte nur eine Taschenlampe bei sich, die bald zu Bruch ging. In der Dunkelheit konnten sie nicht weiterklettern und mussten in der steilen Wand biwakieren. Dazu drohte die ganze Nacht ein schweres Gewitter. Bei Tagesanbruch stellten sie fest, dass die Biwakschachtel, wo sie hätten bequem übernachten können, nur wenige Meter von ihnen entfernt lag. In späteren Jahren unternahm Thomas mit einem befreundeten Bergführer noch viele weitere schwere Bergtouren.

Jeder, der Thomas Metscher begegnet, begreift schnell, dass er ein Mensch ist, der nicht auf Schmalspur lebt, sondern das Leben kompromisslos in allen seinen Möglichkeiten erfahren will. Dazu gehört auch ein beständiges Nachdenken über die Perspektive der Menschheit, ihrer Befreiung aus der Knechtschaft, über Wege in eine selbstbestimmte, friedliche, menschengerechte Zukunft. Theorie und Praxis sind hierbei für Thomas untrennbar verbunden. Zentral in diesem Zukunftsdenken ist die Utopie als die emanzipatorische Vision, die einer gegebenen Epoche und deren Möglichkeiten entspricht. Ähnlich wie für den Iren Oscar Wilde sieht Thomas in der Utopie das Land, „in dem die Menschheit immer wieder ankommt. Und wenn die Menschheit dort ankommt, schaut sie hinaus, und indem sie ein besseres Land erblickt, sticht sie erneut in See. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“ (Wilde) Nur wer die Menschheit wirklich liebt, besitzt die Kraft, für dieses Ziel zu kämpfen. Thomas Metscher ist von einer solchen Liebe beseelt – für seine Familie – Priscilla, Fiona und Wolfgang –, für seine vielen Freunde und Wegbegleiter, für die Humanität.

So wie er sich den Gefahren der Berge stellte, begegnet er auch stets realistisch und unerschrocken den gesellschaftlichen Realitäten. Und in Zeiten größter Gefahr findet man in Thomas’ Denken Hoffnung auf und den Weg zu einer besseren Welt.

Die Macht des Gedanken
Aufruf zur Beteiligung an der Hans-Heinz-Holz-Tagung 2025
Die klassische deutsche Philosophie ist eine der „drei Quellen“ des Marxismus. Hans Heinz Holz hat in seinem philosophischen Wirken diese Einsicht Lenins umgesetzt. Schon in seiner Dissertation über „Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel“ begreift er die Zeit zwischen Leibniz und Hegel als einen einheitlichen Epochenzusammenhang der Philosophiegeschichte und stellt den politischen Charakter der klassischen deutschen Philosophie im Kontext der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft heraus. Holz ordnet auch Kants Werk in die dialektische Theorieentwicklung des Deutschen Idealismus ein und entwickelt damit in seiner „Problemgeschichte der Dialektik“ eine dialektische Gesamtinterpretation der klassischen deutschen Philosophie.
Auf der Hans-Heinz-Holz-Tagung 2025 möchten wir diese Zusammenhänge der Theorieentwicklung beleuchten und von der zentralen Fragestellung der politischen Philosophie im Deutschen Idealismus und ihrer Wirkung auf die marxistische Philosophie her diskutieren.
Neben Vorträgen von Experten lädt die „Gesellschaft für dialektische Philosophie“ junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein, ihre Positionen und Interpretationen zum Werk von Hans Heinz Holz darzustellen. Interessierte werden gebeten Referatskonzepte von nicht mehr als 4.000 Zeichen bis zum 31. August 2024 einzureichen an info@dialektische-philosophie.org.
Hans-Heinz-Holz-Tagung 2025
1. März 2025 | Karl-Liebknecht-Schule, Leverkusen

3011 HHH - Wegweiser zu einer besseren Welt - Arbeiterbewegung, Humanismus, Irland, Literaturwissenschaft, Marxismus, Philosophie, Thomas Metscher, Todestag - Kultur
Hans Heinz Holz

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    "Wegweiser zu einer besseren Welt", UZ vom 26. Juli 2024



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