Das Massaker von My Lai

Was zählte, waren Leichen

Von Stefan Kühner

Aus dem Bericht der Augenzeugin Ha Thi Quy „Sie haben mein Kind getötet“.

In: Apokalypse Vietnam, Rowohlt-Verlag, Berlin, 2000; S. 163 – 165

Die Amerikaner erschienen ganz plötzlich und schenkten mir Zigaretten. Dafür sollte ich ihnen Wasser aus unserem Brunnen schöpfen. Aus jedem Eimer, den ich hochzog, musste ich trinken, bevor ich ihre Feldflaschen füllte, ja, ich musste jede Portion vorkosten. Dann verschwanden sie wieder, ohne irgendwas zu sagen. Das wiederholte sich noch einmal. Als sie zum dritten Mal kamen, war alles ganz anders. Riesengroße Flugzeuge tauchten auf, flogen dreimal hin und her und schossen dabei ununterbrochen um das Dorf herum; die Schüsse fielen wie Regen. Es war am frühen Morgen, fast alle Menschen waren noch zu Hause. Mein Mann war schon mit dem Wasserbüffel auf dem Feld und ich also mit unserem Kind allein. Wir suchten Schutz in den Bunkern. Dann erschienen Soldaten und forderten uns auf, zu einer Sammelstelle zu gehen. Wir taten alles, was sie verlangten. Ich hatte meinen kleinen Sohn bei mir, mit uns kamen viele andere Dorfbewohner. Wer auf dem Reisfeld stolperte und hinfiel, wurde sofort erschossen, ebenso ältere Leute, die nicht schnell genug laufen konnten. Ich fragte mich, was sind das für Menschen, die so wahllos um sich schießen, sind das überhaupt Menschen. Dann wurde ich am Oberschenkel getroffen. Es war ein Steckschuss, ich fiel um, lief dann aber trotz großer Schmerzen weiter. Wir flehten die Amerikaner an, doch sie sagten nichts und feuerten einfach weiter. … Sie trieben die Menschen in den ausgetrockneten Kanal und feuerten auf sie. Auch mein Kind wurde getötet. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden des Kanals, um mich herum nur Leichen. Ich hatte große Schmerzen im Bein, mein Kopf war mit Schlamm und Blut verschmiert, die sich wie eine Mütze verkrustet hatten. Auch meine Füße waren voller Blut, es floss wie Wasser. So gegen zehn Uhr – die Sonne stand schon hoch, und es war sehr heiß – kroch ich auf allen vieren ins Dorf zurück. Dort stand alles in Flammen. Auch unser Haus und die Kühe im Stall brannten lichterloh. Sogar die Bäume waren umgehackt. Doch unser Kind war tot. Ich war damals 44 Jahre alt. Heute bin ich 75 und immer noch sehr traurig und sehr böse. Aber ich kann ja nicht bis zum Himmel schreien, ich bin viel zu schwach. … Ich bin nur ein einfacher Mensch und weiß gar nicht, was das sind – die Amerikaner. Ich weiß nur: Sie haben mein Kind getötet. Hätte ich damals genug Kraft gehabt, hätte ich sie auch getötet.

1968. Der Krieg, den die USA gegen Vietnam führte, wütete in aller Härte. Über 500 000 Soldaten der US-Armee stehen in Vietnam und General Westmoreland forderte von Saigon aus weitere 260000 Mann, um sie gegen die Befreiungsfront in den Kampf zu schicken. In Hué tobte die Schlacht in den historischen Kaiserpalästen.

Die US-Militärführung hatte eine neue Taktik entwickelt: „Search and destroy“. Die kleinen und größeren Gruppen von Kämpfern der Befreiungsfront sollten aufgespürt und auseinander getrieben werden. Auseinandertreiben hieß allerdings nichts anderes als töten. Um den Erfolg der neuen Strategie unter Beweis zu stellen mussten am Abend jedes Tages die getöteten Gegner gezählt und an das Pentagon gemeldet werden. Der sogenannte „body count“ war der Leistungsnachweis der US-Soldaten für ihre Vorgesetzten und ihre politischen Auftraggeber im Pentagon. Es war der Beweis, dass sie ihr Handwerk korrekt ausgeführt hatten. Nur, Gegner waren in dieser Phase des Krieges alle, die vietnamesisch aussahen und nicht zur südvietnamesischen Armee oder Polizei gehörten. Eine Unterscheidung von Kämpfern und Zivilisten wurde nicht gemacht – Vietnamesen waren Viet Cong, wie die Angehörigen der Nationalen Befreiungsfront (FNL) herabsetzend bezeichnet wurden. Tausende Menschen in den Dörfern und kleinen Städten, egal ob jung oder alt, Mann oder Frau, verloren in „Search and destroy“-Aktionen ihr Leben.

Mord an 504 Zivilisten

Zu einem der schrecklichsten Massaker im Kontext dieser Aktionen kam es am 16. März 1968 in dem mittelvietnamesischen Dorf My Lai in der Provinz Quang Ngai. 504 unschuldige und unbewaffnete Zivilisten wurden von Soldaten der 11. Infanteriebrigade der US-Armee niedergemetzelt. Der Kompaniekommandeur Ernest L. Medina erteilte in der Nacht vor dem Massaker den Befehl, das Dorf zu umzingeln und auszulöschen. Angeblich sei dort ein Selbstverteidigungsbataillon des Viet Cong in Stellung gegangen. 250 bis 280 Soldaten wurden am Morgen des 16. März gegen 7:30 Uhr am Rande des Dorfes von Hubschraubern abgesetzt. Sie begannen auf das Dorf zu schießen. Obwohl kein Gegenfeuer festzustellen war, gingen sie in breiter Front auf das Dorf zu und erschossen alle Menschen, die ihren Weg kreuzten. Frauen und Kinder, die fliehen wollten, wurden ebenso erschossen wie alte Männer, die der Feldarbeit nachgingen. Die Soldaten warfen Handgranaten in die Häuser. Ein alter Mann wurde in den Brunnen geworfen und mit einer Handgranate getötet. Zwei junge Frauen wurden zuerst vergewaltigt und dann aus nächster Nähe erschossen. Zeugen berichteten, dass sich etwa 150 Personen, zumeist Frauen und Kinder, in einem Graben versteckt hatten. Als sie furchtsam aus ihrem Versteck schauten, wurden sie von Zugführer Leutnant William Calley einfach niedergemäht. Zusätzlich forderte er seine Soldaten auf, es ebenso zu machen.

Zeugen des Massakers und Dokumentaristen wurden der amerikanische Reporter Five Jay Robert und der Fotojournalist Ronald Haeberle. Sie waren ausdrücklich zu der Aktion eingeladen worden, ohne allerdings zu wissen was da passieren würde.

Haeberle merkte bald, dass es sich nicht um eine normale Säuberungsaktion handelte. Kaum waren sie aus den Hubschraubern gesprungen, sah er, wie ohne Vorwarnung das Feuer auf eine Gruppe von Menschen eröffnet wurde, die gerade durch ein Feld gingen. „Ich sah, wie eine Frau tot zusammenbrach und zwischen den Reispflanzen liegen blieb. Die GIs fuhren fort, auf sie zu schießen, zielten immer wieder auf sie. Sie hörten einfach nicht auf. Man konnte sehen, wie ihre Knochen durch die Luft flogen.“

Nicht nur Haeberle, auch Mitglieder des Kommandos selbst waren überrascht über die Brutalität der Soldaten. Einige weigerten sich mitzumachen. Als Aufklärungs-Hubschrauberpilot Hugh Thompson begriff, was da geschah, befahl er seiner Besatzung zu landen. Der Bordschütze berichtete später: „Thompson wollte Zivilisten retten, stellte sich mit seinem Hubschrauber zwischen Soldaten und Zivilisten, und befahl uns, ihm Feuerschutz zu geben.“

Die Vorgesetzten wurden nie zur Verantwortung gezogen

Nach dem Massaker händigte Hae­berle der Armeeführung vierzig Schwarzweißfotos aus. 18 Bilder, die er auf einem Farbfilm gemacht hatte, behielt er für sich. Sie gehören zu den bekanntesten Fotos des Vietnamkriegs. Mit den „offiziellen“ Fotos versuchte die Army die Mordaktion als Erfolg darzustellen. Die „New York Times“ meldete am 17. März 1968 die Vernichtung nordvietnamesischer Soldaten bei Son My. (Name der Dorfgemeinschaft, zu der auch My Lai gehörte)

Es dauerte über ein Jahr, bis die Aufklärung in Gang kam. Ende April 1968 kam der Soldat Roland Ridenhour nach Vietnam. Er war gerade zwanzig Jahre alt und traf im Stützpunkt alte Freunde. Einer von ihnen, der in My Lai dabei war, erzählt ihm die ganze Geschichte. Ridenhour wollte es zunächst nicht glauben und befragte andere Soldaten der Kompanie. Angesichts von zwölf übereinstimmenden Berichten war er schließlich davon überzeugt, dass da ein Massaker stattgefunden hatte. Am 29. März 1969 verfasste er einen Brief, den er an Kongressmitglieder, Senatoren, Verteidigungs- und Kriegsministerium sowie hohe Offiziere schickte. Mit allen Namen der befragten Zeugen. Er erhielt nur drei positive Reaktionen. Das Verteidigungsministerium sprach von einem „Brief, mit Anspielungen auf Gerüchte, die im Umlauf sind über angebliche Grausamkeiten seiner Kameraden“. Trotzdem wurde Leutnant William Laws Calley, der Führer des Platoons von My Lai, im September vor Gericht gestellt. Die AP-Meldung wurde aber von keiner Zeitung übernommen.

Schließlich wurde der Journalist Seymour Hersh von einem Freund auf die Sache aufmerksam gemacht, interviewte Calley und einige andere. Seinen ersten Bericht bot er „Life“, „Look“ und anderen Magazinen an. Keines wollte ihn. Das alles sei doch alltäglich im Vietnamkrieg. Erst das eifrige Telefonieren eines Freundes, der eine kleine Nachrichtenagentur hatte, brachte den Durchbruch. Am 13. November 1969 erschien ein Artikel über die Verhaftung Calleys in 35 Zeitungen gleichzeitig (unter anderem in der „New York Times“). Jetzt kamen auch Haeberles Farbfotos an die Öffentlichkeit, Beteiligte wurden im Fernsehen interviewt, und die Sache wurde weltweit bekannt. Am 5.12.1969 veröffentliche die Sunday Times die heute weltbekannten Fotos auf zwei Doppelseiten.

Calley, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, wurde nach drei Tagen auf persönliche Intervention des US-Präsidenten Nixon aus dem Gefängnis entlassen und unter häuslichen Arrest gestellt. Der Soldat Ridenhour, der die Aufklärung initiiert hatte, wurde in einem Teil der Presse als „Verräter, Dreckskerl, Agent von Hanoi, Kommunist, Jude und eine Schande für unsere Gesellschaft“ beschimpft. 1974 wird auch der Hausarrest gegen Calley aufgehoben. Die Vorgesetzten Calleys, die den Befehl zum Töten gegeben hatten gingen straffrei aus.

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"Was zählte, waren Leichen", UZ vom 16. März 2018



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