Mittlerweile haben die bedauernswerten Abiturientinnen und Abiturienten in Baden-Württemberg ihr schriftliches Deutsch-Abi hinter sich. Bedauernswert deshalb, weil der Leistungsdruck jedes Jahr steigt, die Unterstützung durch die Schule mangels vernünftiger Ausstattung immer spärlicher ausfällt und private Nachhilfeinstitute und Eltern mit Doppel- und Dreifachbelastung immer mehr auffangen müssen. Wenn sie es denn können, wenn sie den Unterrichtsstoff verstehen, wenn sie die Zeit und die Möglichkeiten dazu haben.
Bedauernswert auch wegen der verbindlichen Lektüreauswahl, die in Baden-Württemberg dank Zentral-Abi allein vom Kultusministerium vorgenommen wird. Diese sogenannten Sternchenthemen haben auch der Autorin dieser Zeilen vor etlichen Jahren fast die Freude am Lesen geraubt. An den beruflichen Gymnasien, eine Schulart, die es so nur in Baden-Württemberg gibt, kam dieses Jahr noch ein sogenannter Shitstorm dazu. Stein des Anstoßes war die Abiturpflichtlektüre „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen. Für diesen Artikel soll die Wikipedia Kurzzusammenfassung reichen: „Er erschien 1951. In 105 episodenhaften Sequenzen wird vom Leben von über dreißig Protagonisten in einer bayrischen Großstadt unter amerikanischer Besatzung, vermutlich München, während der Nachkriegszeit, geprägt von ihren gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen, erzählt. Bezüglich der Figurenkonstellation ist weder eine Hauptfigur noch ein einzelner Held auszumachen. Anfänglich vermeintlich nicht miteinander verwoben, erschließen sich im Verlauf der Lektüre die Zusammenhänge der einzelnen Erzählsequenzen und Handlungsstränge. Tauben im Gras gilt als bedeutende deutsche Literatur.“
Die Debatte wurde durch die Petition einer Lehrerin entfacht, die die Entfernung des Romans aus dem Pflichtlektürekanon erreichen wollte. Die Sprache sei rassistisch, wirke verstörend und sei den Schülerinnen und Schülern nicht zuzumuten. Welche Zeitung ist prädestiniert dazu, eine solche Debatte aufzugreifen und in allerdümmster Manier auszuweiden? Richtig, die „taz“. Ist diese vermeintlich antirassistische Diskussion in irgendeiner Weise hilfreich? Nein, keineswegs.
Nein, das Buch gefällt mir kein bisschen. Ich habe versucht, es für diesen Beitrag zu lesen und bin nicht allzu weit gekommen. Ist das Buch rassistisch? Die BRD in den 1950er Jahren war geprägt von jahrelanger faschistischer Indoktrinierung, Antikommunismus und konservativer Restaurierung inklusive Wiederbewaffnung. Rassismus ist zwangsläufig Bestandteil eines solchen gesellschaftlichen und politischen Kurses. Deshalb beschreibt Koeppen notwendigerweise das rassistische Klima dieser Zeit. Und ja, Rassisten benutzen eine rassistische Sprache. Und auch wenn es mir stilistisch nicht gefällt, er benutzt dazu laut „taz“ eine Montagetechnik, die ein verdichtetes Porträt der Figuren und deren Vorstellungswelt entstehen lässt. Ein Schriftsteller, der literarische Mittel benutzt, um eine Stimmung zu erzeugen und damit Bilder bei seiner Leserschaft provoziert. Unerhört!
Muss das sein? Tja. Wie sollen junge Menschen verstehen lernen, auf welchen braunen Trümmern dieses Land aufgebaut wurde? Ist es ihnen zuzumuten, rassistische Sprache aus den 1950ern zu lesen? Ein Beispiel: „Sie sehen die fremde Tochter im Negerviertel von Baton Rouge, sehen die Andershäutige, die Frau von drüben, Frau von jenseits des Grabens, sehen das Abteil für Farbige, die Straße der Apartheid, wie will er leben mit ihr?“ Das ist Rassismus, in den USA wohlgemerkt, wie er für den schwarzen Protagonisten tagtäglich erfahrbar ist. Das ist der Grund, weshalb seine weiße Freundin das gemeinsame Kind abtreiben will, weil sie es die Blicke und das Gerede der Leute nicht erträgt, für ein schwarzes Kind keine Zukunft sieht. Denn auch die Frau im Wäschegeschäft denkt beim Anblick eines Schwarzen: „Sie sollen gute Väter sein, aber ich möchte kein Kind von ihnen haben.“ Der Schmerz, das Kind von dem Mann, den sie eigentlich liebt, nicht austragen zu können, ist beim Lesen deutlich zu spüren und schwer zu ertragen. Das macht Literatur aus. Kritische Literatur hat zudem den Anspruch, den Finger in die Wunde zu legen. Das macht Koeppen, indem er das unerträgliche Klima in Westdeutschland in der Nachkriegszeit beschreibt. Die Aufgabe von Deutschunterricht ist es, Schülerinnen und Schülern die kritische Auseinandersetzung mit Literatur beizubringen. Und es ihnen dann auch verdammt nochmal zuzutrauen.
Angeblich wissen Lehrkräfte nicht, wie sie im Unterricht mit rassistischer Sprache umgehen sollen. Tatsächlich müssen auch Lehrer manchmal noch was dazulernen – zur Not müssen sie vielleicht mal ihre Schüler fragen.
Wolfgang Koeppen
Tauben im Gras
Suhrkamp Verlag, Taschenbuch, 228 Seiten, 8 Euro