Zu Florian Illies Buch „1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte“

Was ich bisher verdrängt habe

Von Rüdiger Bernhardt

Florian Illies

„1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte“

S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2018

304 Seiten, 20.-Euro

Dem in bürgerlichen Leserkreisen erfolgreichen Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies wurden Leerstellen bescheinigt: Es scheint, der Autor hat die Kritik aufgenommen – die vermissten Namen und Werke sind im zweiten Band 1913 vorhanden, unter dem Untertitel: „Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Teils gelungen, weil nun wichtige Vorgänge des letzten Vorkriegsjahres erwähnt werden, das aber insgesamt politisch unscharf bleibt. Vieles konzentriert sich in Berlin, Wien und München, aber auch das Ausland wurde einbezogen: Rasputin in Moskau, Gorki auf Capri (Capri gilt auch für andere), Erdbeben in Kalifornien usw. Illies lässt ausgewählte Vorgänge wie zusammengehörig erscheinen und vermittelt den Eindruck von Zeitgeschehen. Während der zeitliche Ablauf chronologisch erfolgt, werden zu den Daten im schnellen Szenenwechsel vielfältige Anekdoten und Ausschnitte gegeben, die unterschiedlich in Bedeutung und Gehalt sind und die der Autor manchmal aus abgelegenen Zeitschriftenveröffentlichungen, wohl auch bei Wikipedia, gewonnen hat. Manchmal ballen sich diese Ausschnitte zu biografisch interessanten Abschnitten (wie bei Rilke und Kafka, denen viel Aufmerksamkeit geschenkt wird), manchmal sind die Anekdoten wenigstens amüsant (wie im Falle von Franz Hessel und seiner Frau). Dem steht nicht Gelungenes gegenüber: Das sind die Zufälligkeit bei Auswahl und Bewertung, die Beiläufigkeit vieler Ereignisse, die einem Kaffeeklatsch sehr wohl, kaum einer solchen Jahrhundertbetrachtung angemessen sind. Durch den Kaffeeklatsch stellt sich die Frage nach Sinn der Auswahl und Zusammenstellung. Vieles wiederholt den 1. Band wie die Beinahe-Begegnung Hitlers mit Stalin im Park von Schönbrunn, die Erlebnisse des fünfzehnjährigen Brecht, die Drucklegungen von Proust und anderes.

Kritisch zu vermerken ist: Illies‘ Welt besteht nur aus Künstlern, Schriftstellern und Morphiumsüchtigen, aus „wunderschönen“, „schönsten und wildesten“ und „blendend schönen“ Frauen und Musen, andere scheint es 1913 nicht gegeben zu haben. Aber diese Menschen bewegen diese Welt nicht. Von jenen, die die politische Bewegung betreiben, liest man wenig, etwa einen Hinweis auf eine Rede Rosa Luxemburgs vor Arbeitern gegen den Krieg. Immerhin erfährt der Leser, dass es in Deutschland Arbeiter gibt. In Namenslisten finden sich willkürliche Zusammenstellungen: Georg Brandes, der bedeutende dänische Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts und Propagandist für Ibsen, passt nicht in die Reihe der Fans von Hofmannsthal, von Rudolf Borchardt bis Stefan George. Superlative stimmen oft nicht, der Autor hat einen verhängnisvollen Hang dazu, und sie sind verwirrend: Wer hat Richard Dehmel 1913 zum „bekanntesten deutschen Dichter“ ausgerufen, bekannt ja, aber mehr? Hauptmanns „Festspiel“ aus dem Jahre 1913 wurde nun aufgenommen, aber der Streit darum und Hauptmanns Anlage, die auf Widerstand im Kaiserhaus stieß, wird beiläufig spöttisch, geradezu arrogant abgetan, Paul Ernst, Hauptmanns allergischem Zeitgenossen, als Kritiker zitiert und daraus ein künstlerisches „Desaster“ konstruiert, so als wäre Kulturgeschichte eine bedeutungslose Illustration einer gelangweilten Gesellschaft. Dass es sich bei Literatur und ihren Schicksalen um Chronik und Gedächtnis der Nation handelt, ist dem Autor nicht bewusst geworden. Dafür wird einmal mitgeteilt, es handele sich bei dem neuen „1913“ „in Wahrheit natürlich (um) ein Buch über die Liebe“. Es spielt sich viel Sexualität ab, es wird gezeugt, betrogen, verlassen, sogar die „sexuell dokumentierte Frequenz“ von Jack London mit der Erich Mühsams verglichen; abgebildet wird ein Jahr der Zeitgeschichte damit nicht. Kitsch überwuchert die Szenen, mit dem „Kreuz des Südens“, Varianten des Sternenhimmels, mit der Sonne von Capri u. a. Fehler sind vorhanden: Gerhart Hauptmanns „altes Haus in Erkner im Norden“ Berlins war eine Mietwohnung in der Villa Lassen in Erkner im Südosten Berlins, Pola Negri feierte „erste Erfolge“ mit Henrik Ibsen, nicht mit Hauptmanns „Hannele“ und mehr davon. Keiner der mehr als 2000 Arbeiterstreiks wird erwähnt, nicht die von Karl Liebknecht 1913 aufgedeckte Korruptionsaffäre von Krupp. Das Problem des Autors zeigt sich in der Bezeichnung von Böcklins Gemälde „Toteninsel“ als das „vielleicht berühmteste Gemälde“ der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, wäre da nicht auch an Menzels „Das Eisenwalzwerk“ – neben vielen anderen – zu denken?

Alles in allem: Unterhaltsam durch Anekdoten, aber kaum Bleibendes, wenig Wichtiges, Geschichtslosigkeit als Prinzip und keinen Sinn für die Gefahr für die Menschheit, die sie 1913 berührte und die von politisch denkenden Zeitgenossen bereits warnend beschrieben wurde. Diese Zeitgenossen fehlen fast völlig. Eine Warnung August Bebels vor der „Katastrophe“ wie die gleiche von Erich Mühsam vor der „Katastrophe des Weltkrieges“ sind Ausnahmen; dass Rosa Luxemburg in dieser Zeit Pflanzen gesammelt habe, ist wohl eine absichtliche Sottise. Clara Zetkins Buch „Karl Marx und sein Lebenswerk“ (1913) wird weiter nicht genannt, dafür erscheint die Kommunistin Clara Zetkin als Urlaubsvermieterin. Erneut ärgert der saloppe Sprachgebrauch von „Prost Neujahr“ bis zur alliterierenden Dummheit „Rilke schreibt da gerade aus Ronda richtig Rührendes an den rüstigen Rodin.“ oder die Reaktion auf Mühsams zitierte Warnung „Noch Fragen?“ Der Autor hat keine gehabt, daran ist das Buch gescheitert. Ein Vorzug: Ein Register am Ende umfasst beide Bände „1913“.

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"Was ich bisher verdrängt habe", UZ vom 30. November 2018



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