Ein Jahr Tarifvertrag Entlastung in NRW – eine Bilanz

Was bleibt?

Jonas Schwabedissen

77 Tage Streik, 19 Verhandlungstage und einen erfolglosen juristischen Angriff durch die Arbeitgeber hatte es für uns Streikende an den nordrhein-westfälischen Universitätskliniken im Sommer 2022 gebraucht, um unseren Tarifvertrag Entlastung durchzusetzen. Am 19. Juli stimmte die Tarifkommission dem Eckpunktepapier zu, das die Basis des fertigen Tarifvertrags bilden sollte.

Die Diskussion um dieses Eckpunktepapier wurde unter den Streikenden kontrovers geführt. Gerade an den Unikliniken Düsseldorf und Essen, wo schon 2018 für mehr Personal gestreikt wurde, ahnten viele bereits, dass in ihm trotz der festgehaltenen Erfolge auch Möglichkeiten für die Arbeitgeber enthalten waren, die Umsetzung des Tarifvertrags auszusitzen.

Ein Jahr später kann man Bilanz ziehen: Im Pflegedienst hat sich die Situation flächendeckend nicht verbessert, in manchen Bereichen sogar zunächst einmal verschlechtert. Bis Sommer 2024 sind die Arbeitgeber vertraglich nicht gezwungen, die vereinbarten Personal-Patienten-Verhältnisse umzusetzen, dementsprechend erhalten sie weitestgehend nur den Status quo aufrecht. Dass die notwendigen Messinstrumente für den Personalaufbau bis Mitte 2024 zur Verfügung stehen, glaubt kaum jemand. Eine tatsächliche Umsetzung der sogenannten Ratios droht damit noch weiter in die Zukunft zu rücken. Inhaltlich verstecken sich die Arbeitgeber dahinter, dass kein Personal vorhanden sei, um die Stellen zu besetzen.

In den anderen Berufsgruppen läuft die Umsetzung nicht weniger schleppend. Kaum eine Frist wurde betriebsübergreifend durch die Vorstände eingehalten, der Stellenaufbau hängt an mühseligem Klein-Klein, das quälend langsam voranschreitet. Bisher erleben wir in allen Bereichen von den im Tarifvertrag vereinbarten Inhalten im Wesentlichen „nur“ die sogenannten pauschalen Entlastungstage, also freie Tage, die als Ausgleich bei ungenügendem Personalaufbau dienen sollen. Das ist beileibe mehr als nichts, aber eben nicht das, wofür wir im letzten Jahr gekämpft haben.

Diesen Widerspruch gilt es jetzt auszuhalten: Auf der einen Seite stehen ein Arbeitskampf, der in Ausmaß, inhaltlicher Klarheit und Durchhaltevermögen für viele Betriebe in Deutschland ein Vorbild gewesen ist sowie ein Abschluss, der mitten in Zeiten der Krise und der rigorosen Sparpolitik im öffentlichen und sozialen Bereich ein massives Zugeständnis an uns Beschäftigte bedeutet hat. Auf der anderen Seite steht die Erkenntnis, dass nach kräftezehrenden 77 Tagen im Erzwingungsstreik keine Phase des Triumphs, sondern die nächste Etappe im Kampf um unsere Arbeitsbedingungen getreten ist.

Wir erleben gerade anhand der weitgehend erfolgreichen Hinhalte- und Blockadetaktik der Arbeitgeber: Jeder noch so hart erkämpfte Erfolg wird sofort wieder angegriffen. Besonders wenn es darum geht, dass Beschäftigte selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen, bringen die Arbeitgeber jeden Hebel in Bewegung, um ihr vermeintliches Naturrecht der „unternehmerischen Freiheit“ durchzusetzen. Der Tarifvertrag Entlastung mit seinen Regelungen rüttelt aus Sicht der Vorstände besorgniserregend stark an ihrer Freiheit, mit uns Beschäftigten nach Gutsherrenart umzuspringen. Um seine Errungenschaften durchzusetzen und zu schützen, wird es mehr und stärkeres Rütteln brauchen. Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der wir selbst tagtäglich in der Hand haben, wie unsere Arbeit zu gestalten ist. Im Streik haben wir 77 Tage lang bewiesen, dass wir dazu fähig sind.

Dass eine solche andere Welt auch darüber hinaus möglich ist, erleben in diesem Sommer Jugendliche und junge Menschen, die mit den beiden Brigaden der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) das sozialistische Kuba besuchen und dort unter anderem mit Beschäftigten der William-Soler-Kinderklinik in Havanna in Kontakt kommen. Dort entscheiden die Kolleginnen und Kollegen gemeinsam selbst über die Bedingungen ihrer Arbeit. Das gab es nicht geschenkt: Es ist das Ergebnis einer bis heute andauernden Revolution. Diese Revolution und ihr Sieg sind nicht vom Himmel gefallen. Immer wieder galt es, mit Niederlagen, Rückschlägen und Phasen des vermeintlichen Stillstands umzugehen. Die Antwort darauf war immer dieselbe: Weiterkämpfen!

Diese Losung gilt auch für uns. Die nächste Etappe beginnt in diesem Herbst mit der Tarifrunde der Länder.

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"Was bleibt?", UZ vom 28. Juli 2023



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