2024 – das war ein Kriegsjahr. Nicht enden sollen der Krieg in der Ukraine und die Hetze gegen Russland. Der Völkermord in Gaza geht weiter – entfacht Wut, aber auch Solidarität. Im Innern soll vor allem die Jugend kriegstüchtig werden. Eine neue Wehrpflicht ist beschlossen, Offiziere treiben sich in Schulen und auf Jobmessen rum. Auch die Wirtschaft wird auf Krieg getrimmt. Die Rüstung verschlingt alles, die öffentliche Daseinsvorsorge geht vor die Hunde. Zehntausende verlieren ihre Arbeit. Demagogie und Propaganda nehmen immer absurdere Züge an – wie auch Repression und Staatsgewalt. Das ist nötig, weil es auch die Kehrseite gibt: Es gibt auch Hoffnungen – vor allem im Weltmaßstab durch das Zurückdrängen der Hegemonie des Imperialismus. Aber auch in diesem Land widerstehen viele der Offensive des Kapitals und sammeln sich.
Die UZ berichtet über all das. Sie kann das nur, weil Woche für Woche Autorinnen und Autoren für uns schreiben und mit uns über die Ausrichtung der Zeitung diskutieren. Weil sie ihr Fachwissen, ihre Erfahrung und ihren Blickwinkel einbringen. Nachdem die UZ-Redaktion in den vergangenen Jahren den Jahresrückblick gewagt hat, geben wir in dieser Ausgabe einigen unserer Autorinnen und Autoren das Wort. Was war ihnen wichtig im Jahr 2024, was hat sie berührt, was wollen sie den Leserinnen und Lesern zum Jahreswechsel sagen?
Wir nutzen die Gelegenheit, Danke zu sagen! Ohne unsere Autorinnen und Autoren könnten wir nicht erscheinen. Nur durch ihr Zutun können wir sagen, was ist …
Wir danken auch den Fotografinnen und Fotografen für ihre Bilder und den Leserinnen und Lesern für ihre Rückmeldungen, Kritik und Leserbriefe. Wir danken allen Genossinnen und Genossen, die helfen, die Zeitung zu verbreiten, die Freundinnen und Freunde auf sie aufmerksam machen und nicht zuletzt neue Leserinnen und Leser gewinnen. Wir danken allen, die die Kampagne „1.000 neue Probe-Abos“ zum Erfolg geführt haben.
Einer ist gegangen, wir rücken zusammen
Von Hartmut König
Wieder auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Brecht und Weigel liegen hier, Becher, Dessau, Christa Wolf, Heiner Müller – so viele, in deren Werken sich Weltkunst, auch Kunstreichtum der DDR formte. Heute nahmen wir Abschied von dem Dokumentaristen Walter Heynowski. Der Blick auf seine Arbeit führt uns Lehrbeispiele investigativer Zeitspiegelung vor, die mit analytischer Schärfe imperialistische Wertegauklerei demaskiert. Als Walter Heynowski gemeinsam mit Gerhard Scheumann den „Lachenden Mann“ drehte, sagte er: „Es ging uns darum, in der Person dieses Mannes das System auf die Anklagebank zu bringen, das Henkersknechte wie Müller hervorbringt und benutzt.“ Das „Studio H&S“ zeigte uns in „Piloten im Pyjama“, wie das vietnamesische Volk seinen Goliath besiegte. Es machte uns aber auch zu Zeugen, wie Allendes Volksfront in Pinochets Blutrausch erwürgt wurde. Mit kämpferischen Filmproduktionen, an denen Walter Heynowski beteiligt war, wuchs meine Generation heran und schärfte ihre humanistische Gesinnung. Aber auch in der alten Bundesrepublik, wo sich Herrschaften ertappt sahen und zu ideologischen Verrissen, gar juristischen Attacken griffen, verfehlten die Arbeiten ihr politisch waches Publikum nicht. „In der Schule des Sehens zu einer revolutionären Welthaltung zu gelangen“, nannte Verleger Matthias Oehme in seiner Trauerrede die politisch-ästhetischen Prämissen von „H&S“. In der Eulenspiegel-Verlagsgruppe erscheint soeben Heynowskis zweites Erinnerungsbuch. Ein Signalexemplar erreichte den Autor auf dem Sterbebett. Zur Weltsicht von Walter Heynowski passten die Lieder zu seinem Abschied: „Wir sind überall“ vom Oktoberklub, die „Jarama-Front“, gesungen von Ernst Busch, Dieter Süverkrüps Vietnam-Lied „Wenn dieser Morgen kommt“, interpretiert von Gisela May, Degenhardts DDR-Beobachtungen „Ja, dieses Deutschland meine ich“, Mercedes Sosas „Todo Cambia“. Einer von uns ist gegangen. Wir rücken zusammen. Neue werden kommen.
Es gab nichts mehr zu verteidigen
Von Manfred Ziegler
Zum Jahresende, nach all dem Entsetzen um Gaza und Libanon der Paukenschlag: Syrien gefallen. Vor 14 Jahren begann ich, das Geschehen im Nahen Osten zu dokumentieren und zu kommentieren, zuerst in privatem Kreis per E-Mail, dann auf meiner Website und danach in der UZ. Im Zentrum dabei: Syrien.
Als der Krieg um Syrien begonnen hatte, unter Beteiligung der USA, der Türkei und der Golfstaaten, ahnte ich, dass die USA ihre Beute nie wieder loslassen würden. Denn es ging um Macht und Kontrolle der Region und nicht etwa um „Demokratie und Menschenrechte“. Hätte Syrien sich vom Iran distanziert, wäre Assad vom Westen gefeiert worden wie jetzt al-Dschaulani.
Mitten im Krieg erklärte Assad, das Land solle wieder aufgebaut werden. Nicht wie es zuvor war, sondern besser. Mit mehr Transparenz und Verantwortlichkeit und weniger Korruption. Aber Krieg, Armut und Not sind kein guter Nährboden für positive gesellschaftliche Veränderungen. Es blieb bei Ankündigungen.
Dennoch gab es Situationen der Hoffnung. Im Herbst 2011, als Millionen Menschen in Damaskus und den großen Städten „Assad und Reformen“ in Demonstrationen unterstützen. Oder 2014, als sich Zehntausende Syrer außerhalb des Landes (vor allem in Beirut) an den Präsidentschaftswahlen beteiligten. Oder mit Ali Haidar, der das Ministerium für Versöhnung aufbaute und den Dialog mit der politischen Opposition suchte.
Aber der Krieg dauerte von Jahr zu Jahr an, die Sanktionen wurden immer schlimmer und Geheimdienste, Netzwerke und Seilschaften erwiesen sich als stärker als jeder Wunsch nach Veränderung.
Es kam das Ende des Krieges – und die Not wurde größer als zuvor. Sanktionen, Misswirtschaft und die Folgen des Krieges erstickten das Land, das in seinen besten Zeiten Licht- und Schattenseiten hatte, in einem Zwielicht des Grauens. Jede Hoffnung auf Besserung der Situation erstarb. Es gab nichts mehr zu verteidigen.
Die Ungewissheit der Zukunft erscheint den Syrern besser als die unveränderliche Not der Gegenwart.
Betrieb für Betrieb wurde alleine gelassen
Von Christa Hourani
Das ganze Jahr über haben die Konzerne der Automobil- und Zulieferindustrie immer neue, immer höhere Arbeitsplatzabbauzahlen und Werkschließungen angekündigt, immer schärfere Sparprogramme verkündet, ständig neue Angriffe auf die Arbeiterklasse gefahren. Vereinzelte Aktionstage wie bei Bosch oder ZF, betriebliche Proteste – ja, die gab es. Aber eine große gemeinsame Aktion? Die blieb aus. Betrieb für Betrieb wurde alleine gelassen bei seinen kleinen Kämpfen von der großen IG Metall – das ist doch unerträglich.
Was wird mit dem Ausrufen der „großen Krise“ für ein Ziel verfolgt? Sollen die Beschäftigten auf eine bevorstehende Welle von Attacken eingestimmt werden, damit sie freiwillig auf bisherige Standards verzichten? Sollen sie freiwillig Lohnbestandteile ans Kapital verschenken, um ihre Arbeitsplätze zu sichern? Sollen sie hinnehmen, dass die Knechtung verschärft, die Mitbestimmung ausgehebelt und Vereinbarungen vom Kapital in den Gully gekippt werden? Auch dies ist unsäglich.
Die Tarifrunde Metall und Elektro wurde im Eilschritt durchgezogen. Sie wurde nicht genutzt, um weitere Reallohnsenkungen abzuwehren. Sie wurde nicht genutzt, um die Arbeiterklasse ihre Stärke spüren zu lassen im gemeinsamen Streik, um Kraft zu schöpfen, die Angriffe des Kapitals abzuwehren. Wieder einmal wurde eine Chance ohne Not verschenkt. Hat der IGM-Vorstand Angst, dass die Wut der Beschäftigten über die Angriffe des Kapitals nicht mehr eingebremst werden kann? Das Kapital hat die Sozialpartnerschaft schon lange aufgekündigt. Warum hängt der IGM-Vorstand noch immer an ihr?
Streiks sind die Schulen des Klassenkampfes. Ein Streik lässt die Klasse ihre kollektive Stärke spüren. Nur mit Streiks – und zwar gemeinsamen und machtvollen – können die Interessen der Kolleginnen und Kollegen durchgesetzt werden – das sind gewerkschaftliche Grundweisheiten. Nichts Neues. Aber sie spielen in den Gewerkschaften kaum mehr eine Rolle. Auch das ist unerträglich.
„Arbeiter in die Offensive“ – dieses Schild hielt ein Bosch-Beschäftigter bei einer Aktion in Schwäbisch Gmünd in die Höhe. Genau darum muss es 2025 und auch beim bundesweiten Aktionstag der IGM am 15. März gehen.
Allgegenwärtige Entfremdung
Von Jenny Farrell
Der Literaturnobelpreis geht an eine Frau aus Südkorea. Südkorea ist kein Land für Frauen – dies zeigt sich in der anhaltenden geschlechtlichen Ungleichheit. Trotz wirtschaftlicher Fortschritte sind Frauen stark benachteiligt: Sie verdienen durchschnittlich nur etwa 70 Prozent des Einkommens ihrer männlichen Kollegen, und lediglich rund 20 Prozent der Abgeordneten im Parlament sind weiblich. Die patriarchale Struktur führt zu einer Unterrepräsentierung von Frauen in Führungspositionen. Dagegen begehren sie auf – die Geburtenrate von 0,71 Kinder pro Frau ist eine der niedrigsten weltweit.
In diesem Kontext wirkt Han Kangs 2016 mit dem International Booker Prize ausgezeichneter Roman „Die Vegetarierin“ (2007) als schonungslose Abrechnung mit repressiven Strukturen. Yeong-hye trifft eine radikale Entscheidung, ausgelöst von einem Albtraum über das Gemetzel an Tieren: Sie lehnt fortan Fleischverzehr ab und zieht sich zunehmend aus sozialen und familiären Zwängen zurück. Ihre Rebellion äußert sich in Isolation und einem letztlich extremen Begehren.
Han Kang verdeutlicht, dass die entfremdenden Kräfte der Gesellschaft nicht nur Frauen betreffen. Yeong-hyes Schwager möchte ebenfalls aussteigen, nutzt sie jedoch für seine eigenen Zwecke aus. So wird auch die Entfremdung der Männer in einer patriarchalen Gesellschaft thematisiert. Letztlich ist es jedoch eine andere Frau, die Yeong-hye zu begreifen vermag.
„Die Vegetarierin“ ist eine eindringliche Erzählung über die allgegenwärtige Entfremdung, die durch die Strukturen einer gewalttätigen und unterdrückenden imperialistischen Gesellschaft erzeugt wird. Der Roman beleuchtet, wie strikte Normen und Gewalt sowohl Frauen als auch Männer prägen, und zeigt, wie tief die Entfremdung in Südkoreas Gesellschaft verwurzelt ist.
Han Kang erhielt 2024 den Nobelpreis für Literatur. Eine ausführlichere Besprechung ihres Werks, das auch Gewalt und Geschichtsrevisionismus kritisiert, erscheint in der Januar-Ausgabe der „Marxistischen Blätter“.
Ansporn für Gegenpropaganda
Von Dietmar Dath
In mehr als dreißig Jahren Arbeit auf dem Feld der bürgerlichen Medien habe ich ein solches Sperr- und Trommelfeuer von Propaganda nicht erlebt wie 2024. Die Regierungskrise in der BRD löste ein Gebell aufdringlichster Empfehlungen aus, der Satz „Politikerin XY ist im Volk beliebt“ oder der analoge Satz „Politiker Z hat hohe Umfragewerte“ bedeutet heute offenbar nichts mehr als den Versuch, die jeweils kriegswilligsten Figuren mit aller Gewalt durchzudrücken. Lindner ist unmöglich geworden? Dann nehmt doch Strack-Zimmermann! Scholz eiert? Dann nehmt doch Pistorius!
Der Vorlauf zur Wahl soll den Leuten einbimsen, dass sie nur die Wahl haben zwischen „dasselbe“ oder „das Gleiche“. Unterdessen versucht die Website der „Bild“-Zeitung genauso schrill, den ausgebeuteten Klassen die Lohndrücker-Allzweckwaffe „Künstliche Intelligenz“ als Weihnachtseinkauf-Beratungseinrichtung anzupreisen. Dumm nur, dass diese Einkäufe ziemlich bescheiden ausfallen dürften, wegen genau der Politik, die diese Zeitung das ganze Jahr sonst so erbarmungslos bejubelt.
Während also die großen Medienhäuser nur noch übergeschnappte Wahl- und Wahnwerbung brüllen, spielt aktives militärisches Personal seine Untaten per Social Media auf jedes Smartphone. Der ganze Lärm lässt an einen alten Befund von Noam Chomsky denken: Am Umfang, an der Hysterie, am Geräuschpegel der Hetze kann man ablesen, wie viel Aufwand die herrschende Klasse nötig zu haben glaubt, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten auf Kurs zu halten. Sie sind eben nicht „von Natur aus“ stumpfe, leicht lenkbare Luder; das unterstellen ihnen nur nach jeder nicht komplett systemstabilisierenden Wahl dieselben Medien, die sonst das Propagandageheul veranstalten. Dass diese Medien also dermaßen lärmen, weil sie der Loyalität der Massen nicht trauen, darf man durchaus als Ansporn für Gegenpropaganda verstehen, wenn man etwas anderes anzubieten hat als die vorhandenen Scheußlichkeiten des Amoklauf-Monopolkapitalismus.
VW ist kein Einzelfall
Von Ulf Immelt
2024 war kein gutes Jahr für die Lohnabhängigen. Ob bei VW, Bosch, Thyssenkrupp oder Continental, überall war Arbeitsplatzabbau, Werkschließungen und Lohnraub die stereotype Antwort der Bosse auf Krise und Transformation. Während Hunderttausende Kolleginnen und Kollegen um ihre Jobs bangen und in eine ungewisse Zukunft schauen, knallten an der Börse die Champagnerkorken.
Der DAX hatte trotz Wirtschaftskrise am Jahresende erstmals die 20.000-Punkte-Marke geknackt. Schon im vergangenen Jahr schüttete der Allianz-Konzern mehr als vier Milliarden Euro an Dividenden aus. Übertroffen wurde dies noch von Daimler-Benz mit 5,3 Milliarden und BMW mit 4,4 Milliarden Euro. Und auch VW-Aktionäre konnten sich noch im Juni dieses Jahres über 4,5 Milliarden Euro Dividende freuen. Schon zwischen 2021 und 2023 kassierten die Couponschneider trotz der damals schon absehbaren Krise etwa 22 Milliarden Euro an Dividenden.
Das erklärt auch, warum ausgerechnet Oliver Blume, Chef der Volkswagen AG, mit einem Jahresgehalt von 10,32 Millionen Euro 2024 Deutschlands bestbezahlter Manager war. Die neun Mitglieder des VW-Vorstands erhielten zusammen über 40 Millionen Euro. VW ist kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr haben die Vorstände von Deutschlands großen Börsenkonzernen so viel verdient wie nie zuvor. Im Schnitt stieg deren Vergütung um 11 Prozent, was einem Jahresgehalt von durchschnittlich 2,65 Millionen Euro entspricht.
Auch 2025 soll die Party weitergehen. Denn viel entscheidender als die wirtschaftliche Lage hierzulande ist es, dass die großen DAX-Konzerne weltweit aktiv sind, „dass sie Kosmopoliten sind, mit guten Geschäftsmodellen“, argumentiert beispielsweise Robert Halver von der Baader Bank bei Bekanntwerden des Allzeithochs. Daher könne man „von den Niederungen des Nationalstandorts abstrahieren. Und das ist der Grund, warum die Aktienkurse weiter steigen“, so der Banker. Bei solchen Profitaussichten nimmt man dann auch die Deindustrialisierung eines ganzen Landes billigend in Kauf.
Ich will das nicht mehr!
Von Tatjana Sambale
Der 13. Dezember beginnt morgens mit einer Nachricht von tagesschau.de auf meinem Handy. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, die Meldungen noch im Halbschlaf zu lesen. Oft rege ich mich dann so darüber auf, dass ich innerhalb kürzester Zeit hellwach bin und voller Tatendrang in den Tag starten kann. Heute lege ich das Handy weg, schließe die Augen und denke: „Ich will nicht mehr.“ Ich will nicht mehr in einem Land aufwachen, in dem Polizistinnen und Polizisten ungestraft 16-jährige Kinder mit der Maschinenpistole niedermetzeln dürfen. Ich weiß auf einer rationalen Ebene: dieser kapitalistische Staat muss das tun. Er kann solches Handeln nicht sanktionieren, muss sich schützend vor seine Handlanger stellen. Wer sonst sollte sonst noch seine Drecksarbeit erledigen wollen? Aber auf einer emotionalen Ebene will ich nicht mehr. Ich will keine bundesdeutsche Staatsräson zur Rechtfertigung deutscher Waffenlieferungen für den Völkermord in Palästina, ich will kein Embargo gegen Kuba, keinen staatlich geheuchelten Antifaschismus, während ich gleichzeitig gezwungen bin, gegen die Inhaftierung aktiver Antifaschistinnen und Antifaschisten zu protestieren.
Noch ein Griff zum Handy. Ich versuche mich an schöne Dinge zu erinnern. Es zeigt für 2024 sagenhafte 9.841 Fotos. Viel zu viele, aber sie helfen. Die Bilder vom SDAJ-Bundeskongress in Nürnberg, von den Protesten gegen die SiKo und vom 1. und 8. Mai. Fotos vom Pfingstcamp, den UZ-Friedenstagen, der Festa do Avante. Und ja, auch ziemlich viele Fotos von Blumen, Stränden, Sonnenuntergängen und süßen Kindern. Sie helfen, diese Erinnerungen, und ich weiß, wie privilegiert ich bin, sie zu haben. Anders als früher schwingt nun beim Betrachten manchmal der leise Gedanke mit: Genieße es, solange es noch geht.
Das für sich genommen ist eine wirklich erschreckende Erkenntnis und sollte Anlass sein, mit noch mehr Tatendrang ins nächste Jahr mit all seinen Absurditäten, Schrecklichkeiten und Wundern zu gehen. Apropos Wunder: Der wunderbarste Mensch der Welt hat 2024 gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Natürlich möchte ich. In genau einem Jahr soll es soweit sein. Wie könnten wir uns eine so schöne Gelegenheit für positive Erinnerungen auch entgehen lassen? Womöglich endet die Hochzeitfeier wie die von Bill und Fleur im letzten Harry-Potter-Band und ein nicht unerheblicher Teil der Gäste agiert von dort an in der Illegalität. Aber die Party zuvor wird sicherlich grandios.
Leute wie am Tor 1
Von Benedict Kolbe
Mein politisches Highlight war in diesem Jahr ein Besuch der Mahnwache bei Thyssenkrupp in Duisburg. Seit dem Sommer, als der Vorstand das „Horrorszenario halbe Hütte“ ins Spiel gebracht hat, befindet sich vor Tor 1 in Duisburg eine Dauermahnwache. Betriebsräte, Vertrauensleute und engagierte Kolleginnen und Kollegen kommen hier zusammen zum Informationsaustausch und für Absprachen. Wir waren mehrmals dort, um unsere Solidarität zu zeigen und um mit den Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen. Mal hatten wir Snacks dabei, mal Getränke und auch mal die UZ.
Am 27. November waren wir vor Tor 1, weil es der Jahrestag des Beginns des Kampfes um Rheinhausen ist. Wir brachten eine historische UZ-Fotodokumentation über den monatelangen Kampf um den Erhalt des Stahlwerkes vorbei. Es waren unglaublich spannende Gespräche über damals, aber auch über die heutige Situation. Erst ein paar Tage vorher waren die konkreten Zahlen vom Vorstand veröffentlicht worden. Mindestens ein Standort soll stillgelegt und 11.000 Arbeitsplätze sollen vernichtet werden. Die Kolleginnen und Kollegen erzählten, wie in ihren Bereichen darüber gesprochen wird und was es jetzt braucht, um gegen diese Frechheit des Konzerns anzugehen.
Bei Thyssenkrupp wie bei VW wird deutlich, dass es einen Strategiewechsel auf Kapitalseite gegeben hat. Das Aufkündigen der Sozialpartnerschaft wird von den Betriebsräten und Vertrauensleuten auch im Umgang mit ihnen spürbar. Im Zelt in Duisburg wissen sie, der Angriff gilt nicht nur den Stahlarbeitern in NRW, sondern der Speerspitze der organisierten Arbeiterklasse in diesem Land. Wenn diese Spitze gebrochen wird, wird es für alle Menschen in Deutschland, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, noch schlimmer werden. Natürlich ist die Situation eine andere als 1987 in Rheinhausen, aber auch die Leute damals haben nicht von jetzt auf gleich den Arbeitskampf geführt. Auch sie mussten es erst lernen. Dafür brauchten sie solche Kolleginnen und Kollegen wie die der Mahnwache an Tor 1, die schon in der Kälte stehen und aushalten, wenn sich noch nicht viel bewegt. Unsere Solidarität habt ihr! Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder, und in dem, da bin ich mir sicher, wird sich einiges bewegen.
Ein Schimmer der Hoffnung
Von Anne Rieger
Für mich war das Gipfeltreffen der BRICS-Staaten im Oktober in Kasan ein Highlight im Bemühen um ein friedliches, gleichberechtigtes Miteinander auf unserm Planeten. Ein Schritt in Richtung Multilateralismus, weg vom Unilateralismus der westlichen Regierungen, besonders der USA.
Die Staatschefs der fünf Gründerstaaten Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika waren anwesend, ebenso die Präsidenten des Iran, der Türkei und Ägyptens und UN-Generalsekretär António Guterres. Insgesamt trafen sich Vertreter von 36 Staaten. Ein Treffen um Frieden und Gleichberechtigung auf höchster Ebene mit enormem politischem und wirtschaftlichem Gewicht: Die jetzigen BRICS-Staaten repräsentierten 2023 insgesamt fast 45 Prozent der Weltbevölkerung, ihre Bevölkerungen erwirtschafteten knapp 36 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Ziel des Treffens war es, die BRICS und den gesamten Globalen Süden für die geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen zu wappnen.
Der Unmut über die westliche Dominanz ist groß und die Hoffnung, diese abschütteln zu können, bindet die unterschiedlichsten Länder von China über Indien bis hin zu den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammen. Es ist gelungen, lange bestehende interne Widersprüche, zum Beispiel zwischen Iran und Saudi-Arabien oder zwischen Indien und China, zu reduzieren. Nach Jahrhunderten der westlichen Überlegenheit, des Kolonialismus, der ewigen Kriege, der Millionen Toten und unbeschreiblichen Verwüstungen gibt es die Chance auf eine andere Welt. Auf eine Welt der Kooperation, des Respekts, des gemeinsamen ökonomischen Vorteils. Das würde auch uns – der Mehrheit der Menschen in den westlichen Ländern – nur Vorteile bringen. Obwohl das Treffen in unserem Mainstream kaum eine Rolle spielte oder negativ „gerahmt“ wurde, war es für mich ein Schimmer der Hoffnung, ein heller Stern am Himmel.
Wer hätte das gedacht
Von Jörg Kronauer
Viel Positives hatte das Jahr 2024 wahrlich nicht zu bieten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Entwicklung, die die drei Sahelstaaten Mali, Burkina Faso und Niger durchlaufen haben. Wer hätte noch vor wenigen Jahren etwa gedacht, dass es ihnen gelingen könnte, nicht nur die Streitkräfte Frankreichs, sondern auch diejenigen fast aller anderen westlichen Staaten aus dem Land zu werfen? Darunter die Bundeswehr und die US-Streitkräfte, die sogar ihre teuer bezahlte Drohnenbasis in Niger aufgeben mussten? Wer hätte gedacht, dass es der nigrischen Regierung gelingen würde, dem mächtigen französischen Staatskonzern Orano (Ex-Areva) so massiv die Zügel anzulegen, dass er kein Uran aus den großen Minen nördlich von Agadez mehr abbauen kann und wohl kurz davor steht, das Land unter herben Verlusten zu verlassen? Oder dass die malische Regierung einen Bergbaukodex gegen einflussreiche westliche Rohstoffkonzerne durchsetzen können würde, der deren Abgaben an Bamako massiv erhöht und die finanziellen Spielräume der Regierung dort stärkt?
Die drei Sahelstaaten, die sich im Juli zu einer Konföderation zusammengeschlossen haben, der Alliance des États du Sahel (AES, Sahelstaatenallianz), haben im vergangenen Jahr in ihrem Kampf um nicht nur formale, sondern echte Unabhängigkeit, in ihrem Kampf gegen den Neokolonialismus der alten Kolonialmächte viel erreicht. Der Kampf ist hart. Die AES-Staaten mussten brutale, von Europa geforderte Sanktionen überstehen. Sie müssen immer noch Krieg gegen Dschihadisten und andere Aufständische führen, von denen zumindest einige aus westlichen Staaten unterstützt werden. Letzteres mit dem Ziel, das Streben nach echter Unabhängigkeit zu einem teuren, vielleicht zu teuren Geschäft zu machen. Und nicht zu vergessen – sie werden von Militärs regiert. Die Gefahr, dass die Generäle fortschrittliche Entwicklungen im Innern zunichtemachen, ist da. Und dennoch: Die AES ist ein Beispiel dafür, dass die Revolte des Globalen Südens gegen die neokolonialen Unterdrücker an Schwung gewinnt. Das macht Mut.
Internationalismus im Herzen
Von Henning von Stoltzenberg
Das Jahr 2024 war von einer rasanten Repressionsentwicklung gegen linke und soziale Bewegungen geprägt. Es war vor allem die Solidaritätsbewegung für Palästina, die die volle Härte der Klassenjustiz zu spüren bekam. Der bundesdeutsche Staat hat kaum Möglichkeiten ausgelassen, um gegen die internationalistische Bewegung vorzugehen.
Da waren die Angriffe auf Studierende an den Unis, die den Völkermord am palästinensischen Volk durch Besetzungen thematisiert haben. In Berlin hat das zu einem neuen Hochschulgesetz geführt. Es ermöglicht die Exmatrikulation von Studierenden ohne Angabe von Gründen. Eine Zäsur war auch das faktische Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin. In mehreren Städten verloren Leute ihren Job, insbesondere in der sozialen Arbeit gab es Kündigungen. Fördermittel für kulturelle Einrichtungen wurden gestrichen und Veranstaltungen abgesagt. Ein Höhepunkt: Das Verbot der Palästina Solidarität Duisburg.
Die Aktivisten wurden mit Hausdurchsuchungen und öffentlicher Hetze bedacht. Es herrschte ein Klima der Angst, auch in linken Zusammenhängen, denn wer will schon öffentlich „Antisemit“ genannt werden. Hier trennte sich die Spreu vom Weizen und es wurde in der zweiten Jahreshälfte klar, wer den Internationalismus ernst meint und im Herzen trägt.
Angesichts des für alle sichtbaren Völkermords in Gaza mussten manche Aktivisten erkennen, dass sie sich vorschnell Staatsräson und Regierungslager angeschlossen haben. Andere sind unbelehrbar und verkaufen ihre Regierungstreue als „Antifaschismus“. Doch jenseits des (links-)liberalen Bürgertums und der neuen Rechten haben die Menschen verstanden, dass das, was in Gaza passiert, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.
Es gilt, jetzt nicht zurückzuweichen und die Solidaritätsbewegung und von Hetze betroffene Genossinnen und Genossen zu verteidigen. Solidarität ist und bleibt unsere stärkste Waffe!
Wenn wir dennoch bilanzieren …
Von Andrea Hornung
„Jeden Morgen, wenn ich unter der Decke des Himmels wieder aufwache, fühle ich, dass für mich Neujahr ist. Deshalb hasse ich diese Jahreswechsel mit unverrückbarer Fälligkeit, die aus dem Leben und dem menschlichen Geist ein kommerzielles Unternehmen mit seinem braven Jahresabschluss, seiner Bilanz und seinem Budget für die neue Geschäftsführung machen. Sie führen zum Verlust des Sinns für die Kontinuität des Lebens und des Geists.“
Antonio Gramsci
Ja, das letzte Jahr war ein Jahr der Kontinuität. Der Klassenkampf lief weiter, die allgemeine Krise setzte sich fort, der Kurs auf Aufrüstung und einen großen Krieg gegen Russland und China blieb. Der Sozialabbau wurde fortgesetzt, Schulen und Infrastruktur verfielen weiter, jeder Fünfte unter 18 ist armutsgefährdet und die Blockade gegen Kuba bleibt. Die Jugend hat in diesem System keine Perspektive. Bilanzieren wir dennoch, so können wir feststellen: Jetzt soll auch noch die Wehrpflicht eingeführt werden, jetzt sollen Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden, jetzt soll die Präsenz der Bundeswehr an Schulen noch erhöht werden, jetzt wollen vier von zehn Firmen Arbeitsplätze streichen. Das neue Jahr, es bringt keinen Bruch, aber die Geschwindigkeit erhöht sich.
Und doch stehen in unserem Jahresabschluss auch Erfolge: Ein Bündnis und Veranstaltungen von Gewerkschaftsjugenden gegen die Wehrpflicht, Palästinasolidarität an Schulen, mehr als 30 Bundeswehrstöraktionen, Kraft gebende UZ-Friedenstage, mehr Jugendliche, die sich in der SDAJ organisieren, ein neues Zukunftspapier, jetzt mehr als 50 SDAJ-Gruppen. Und viel wichtiger: Mehr Menschen, die dem Kriegskurs nicht zustimmen, die sich mit Palästina solidarisieren, die gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind, mehr Menschen, die merken, dass in diesem System etwas nicht stimmt, Menschen, die gemeinsam kämpfen wollen.
Das neue Jahr, es bringt keinen Bruch, unser Kampf geht weiter – gemeinsam beim LLL-Wochenende in Berlin, bei den Protesten gegen die NATO-Sicherheitskonferenz, beim Festival der Jugend! Unser Kampf geht weiter, in Solidarität mit Kuba und Palästina und für den Sozialismus. Statt Neujahr werden wir die kubanische Revolution am 1. Januar und viele weitere Revolutionen feiern!
Völkermord wird zur Lappalie
Von Markell Mann
Nach dem Ende der Ampel sagen manche, diese Regierung aus SPD, Grünen und FDP hätte nichts hinbekommen. Diese Einschätzung lenkt ab, als sei der offene Bruch mit dem Völkerrecht eine Lappalie. Sicherlich ist der Umgang mit dem historisch erzwungenen Regelwerk immer von Interessen geprägt und das Völkerrecht per se keine Garantie für eine friedliche Entwicklung. Gerhard Schröder, der den NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien mitverantwortete, stritt nach seiner Kanzlerschaft nicht ab, dass dafür internationales Recht gebrochen und zum Recht des Stärkeren wurde. Das war Ende der 90er möglich „dank“ des Zusammenbruchs des sozialistischen Blocks mit der Sowjetunion an der Spitze.
Heute unterscheidet sich die Verfasstheit des deutschen Imperialismus von seinen fetten Jahren. Mit deutscher Gründlichkeit wird über die Stränge geschlagen, so dass das Land zum Jahreswechsel ein anderes ist. Während unten teilweise noch vorsichtiger formuliert wird, sind oben alle Hüllen gefallen: Wer nicht für die bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung sei, der spräche Israel das Existenzrecht ab: Das behaupten die, die vom Existenzrecht eines souveränen palästinensischen Staates nichts wissen wollen.
Wenige Jahren nach dem ersten Gerede von einer „regelbasierten Weltordnung“ kommuniziert die Bundesregierung noch im Amt offen, dass sie es nicht so genau nimmt mit ihren internationalen Verpflichtungen. Trotz Verfahren wegen Beihilfe zum Völkermord liefern deutsche Rüstungsunternehmen mit Genehmigung durch die Regierung Waffen und Munition für Bombardements in Gaza und Schüsse in der Westbank. Die deutsche Rüstungsindustrie profitiert von den gestiegenen Militärausgaben und Profitraten in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Jede verkaufte Patrone spült Geld in die Kassen des ins Hintertreffen geratenen deutschen Imperialismus. Nachdem er beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt ins Hintertreffen geraten ist, versucht er es wieder einmal mit militärischer Potenz.
Innehalten und nachdenken
Von Ralf Hohmann
Am Ende dieses Jahres, so war meine Hoffnung, könnte ich Versöhnliches schreiben. Diesmal kein Chronist des Abbaus demokratischer Rechte, der Hatz auf Delegitimierer und der kriegslüsternen Gehirnvernebelung sein. Ein Interview auf NTV machte einen Strich durch die Rechnung.
Ein Bunkerbauexperte verriet sein Geschäftsgeheimnis: „Wir waren friedensbesoffen (und) dachten, wir haben Russland im Griff, deshalb wurden alle Schutzräume in Deutschland abgebaut.“ Ein fataler Fehler angesichts des tagtäglich herbeigeredeten Krieges. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) bilanziert im „nationalen Bunker-Plan“: 578 verbliebene Bunker, alle in beklagenswertem Zustand. Fürs erste mit 130 Millionen Euro renoviert, können allenfalls 500.000 Menschen Schutz finden, für die Reichen bleiben 84.000 private Schutzräume. Und die restlichen 99,6 Prozent der Bevölkerung? Nein, die werden weder zerfetzt noch verglühen sie lebendig zu Asche. Ihnen rät die Bundesregierung, dass sie sich selbst schützen müssen. Das ist nicht einfach, sind doch deutsche Außenmauern genormt nach der Schutzvorschrift DIN 1053-1 zwischen 24 und 49 Zentimeter dick. Die durchschlägt selbst die kleinste betonbrechende Bombe wie Butter und zündet ihren Sprengstoff erst im Innenraum. Keine Überlebenschance für weiche Ziele.
Immerhin gibt es laut BBK ja demnächst die „Bunker-App“. Wem das Tor des Massenschutzraums vor der Nase zugeschlagen wurde, eilt GPS-gestützt (sofern noch in Funktion) zum nächsten U-Bahn-Schacht (sofern es einen gibt). Wenn die Bomben schon in der Luft sind, ihr Pfeifen sich mit dem Heulen der Sirenen vermischt, drängen sich Hunderte voller Angst die engen Treppen hinunter. Wie am 3. März 1943, als in einer Massenpanik auf den ersten 19 Treppenstufen der Bethnal Green Station im Londoner East End 173 Menschen den Tod fanden.
Charlotte Spicer, die ihre kleine Schwester und ihren Bruder unter den Totgetrampelten identifizieren musste, schrieb in ihr Tagebuch: „Innehalten und nachdenken, und sich daran erinnern, was für eine schreckliche Sache ein Krieg ist. Menschen, die noch nie einen Krieg erlebt haben, schauen dich fragend an. Antworte ihnen, was für eine furchtbare, furchtbare Sache das ist.“