Doris Gercke hat mit einem neuen Frauenbild den deutschen Krimi erneuert

Wahrheit erzeugen

Von Ellen Beeftink

Herzlichen Glückwunsch, Doris Gercke

Herzlichen Glückwunsch, Doris Gercke

( DEFF Westerkamp)

Der deutsche Krimi hat eine durchaus lange Geschichte. Die erste Privatdetektivin löste ihre Fälle schon 1913 auf der Leinwand. Sie hieß „Nobody“, half vorwiegend Männern aus der Patsche und verschwand alsbald wieder. Die nächsten 75 Jahre lang war Krimi mit wenigen Ausnahmen wieder Männersache. Frauen sind Opfer, Ehefrau, Objekt der Begierde. Und dann kam Bella.

Doris Gercke war schon fünfzig, als sie 1987 mit der Arbeit an ihrem ersten Buch begann. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie, hatte sie früh geheiratet, Kinder bekommen und erzogen, sich politisiert, in der Frauen- und der Friedensbewegung engagiert und 1980 ein Jurastudium aufgenommen. Krimis schreibt sie, weil „… ich immer gedacht habe, ich würde meine Bücher hier und heute ansiedeln und ich würde unsere gesellschaftliche Wirklichkeit beschreiben. Für mich ist Krimi eine Kunstform. Kunst hat etwas mit Abbildung von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit zu tun.“ So entstand „Weinschröter muss hängen“.

In einem niedersächsischen Dorf gibt es mehrere Selbstmorde, die Hamburger Kripo ist für deren Untersuchung zuständig. Leitende Ermittlerin: Bella Block. Bella – die Schöne – ist weder jung noch blond noch langbeinig. Sie ist unangepasst, schroff, beziehungsunfähig mit Hang zu jüngeren Männern, stark und doch verletzlich, gradlinig mit Haltung. Nicht gerade der mütterliche Typ. Sie ähnelt eher Philipp Marlowe als Miss Marple, kennt die Abgründe, die eine Klassengesellschaft bereit hält. Bellas Empathie ist nicht rein emotional, sie gründet auf dem Wissen um die gesellschaftlichen – kapitalistischen – Verhältnisse und deren Machtstrukturen. Darin gleicht sie ihrer Erfinderin, auch wenn diese betont, sie habe Bella ganz bewusst anders konzipiert, anderes Aussehen, andere Verhaltensweisen. Um anschließend zu bekennen, dass sie damals nicht gewusst habe, „dass man, ob man will oder nicht, Teile von sich selbst hinzu gibt. Und eine Serienfigur wird einem auf Dauer immer ähnlicher.“

Doris Gercke hat mit Bella Block ein neues (literarisches) Frauenbild etabliert. Jeder, der sich ernsthaft mit dem Genre beschäftigt, verweist auf die Autorin und ihre Romanfigur. Seit das ZDF die „Bella“ gekauft hat, kann man einen Trend hin zu erfahrenen, kompetenten, selbstbewussten Kommissarinnen beobachten. Doch Popularität im TV hat ihren Preis. Dort müssen sie dem Massengeschmack angepasst werden, ein wenig stromlinienförmiger, identifikationsstiftender sein. Brigitte Frizzoni von der Universität Zürich erklärt, dass es Filmemachern wichtig sei herauszustreichen: „Es ist eine Frau.“ Also hartgesotten, aber in Stöckelschuhen. Im Buch darf die Ermittlerin sehr viel unkonventioneller sein. Doris Gercke selbst kommentiert die Verfilmungen so: „Bella ist die Enkelin des russischen Dichters Alexander Block, hat daher eine Vorliebe für den Osten Europas, sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache und liebt die Gedichte ihres Großvaters. In den Filmen kommt das nicht vor. Es würde mich auch nicht wundern, wenn das Fernsehen Bellas sexuelle Unternehmungslust beschränkte, weil diese nicht ins Weltbild der Verantwortlichen passt.“ (leicht gekürzt) So quittiert Bella auch schon im ersten Buch den Dienst und arbeitet fortan als Privatdetektivin.

Es bedarf einer hohen handwerklichen Kunstfertigkeit, eine Romanfigur so anzulegen und stringent weiter zu entwickeln, ihr eine solche Tiefe zu geben, dass der Leser glaubt sie wirklich zu kennen, wie eine Nachbarin, eine gute Bekannte oder Freundin. Hinzu kommt die genaue Beobachtung der Tatorte und des Umfeldes. So wird man fast zum Teil der Geschichte. Eine Leserin schreibt auf dem Online-Portal „Krimi-Couch“: „Doris Gercke ist eine der wenigen deutschsprachigen Autoren, die mit einfacher, klarer Sprache eine poetische Stimmung erzeugt, erzeugen kann. Wer dies wiederum kann und macht, der erzeugt natürlich eine Wahrheit.“ „Ich komme gerade aus einem Buch“ hörte ich oft von einer Freundin, wenn sie meinen Anruf entgegennahm. So ist das mit den Büchern von Doris Gercke.

Immer wieder braucht sie eine Pause von Bella Block, schreibt Romane, Kinder-und Jugendbücher, Hörspiele, Gedichte. Von beängstigender Aktualität ist „Kein fremder Land“ aus dem Jahr 1993. Doris Gercke erzählt darin die Geschichte der Schriftstellerin Lisa Talbach, die sich der politischen Entwicklung entzieht und von Mallorca aus die Ereignisse in ihrer Heimat verfolgt. Die Situation spitzt sich schnell zu, Häuser werden angezündet, die extreme Rechte gewinnt die Wahl. Die neuen Machthaber erzwingen ihre Rückkehr nach Deutschland und die Lage bald auch für sie bedrohlich. Lisa Talbach muss sich entscheiden: Kampf oder Resignation. Im Tagesspiegel schreibt ein Kritiker: „Erbarmungslos und unerbittlich, präzise und poetisch, sozialkritisch und doch literarisch kunstvoll hält Doris Gercke uns den Spiegel vor.“ Die Edition Tiamat hat diesen Roman weiterhin im Programm. Also: unbedingt lesen.

Ihren jugendlichen Lesern erzählt sie in spannenden Abenteuergeschichten von den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen. Ihren Nöten und Ängsten, Träumen und Hoffnungen. In „Für eine Hand voll Dollar“(nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Italo-Western) geht es um den13-jährigen Red Bull (schwarz) und John (weiß), der Geld für seine Familie beschaffen muss. Sie geraten erst auf die schiefe Bahn und dann in große Schwierigkeiten. Derweil erzählt Red Bulls Opa von den Kämpfen der Schwarzen für Freiheit und Gleichberechtigung. Auch hier zeigt eine Lesermeinung die Wirkung, die Doris Gerckes Bücher erzielen. „Das Buch ist klasse. Da gibt’s gar nichts. Ich stelle das buch jetzt in der schule vor. Jetzt weiß ich z. B. auch wie dreckig es den negern ging bzw. geht.“ (Rechtschreibung im Original)

Irgendwann kann sie Bella nicht mehr ertragen und beginnt unter dem Pseudonym „Marie-Jo Morell“ mit einer Krimireihe um die Anwältin Milena und den ehemaligen Polizisten Beringer. Ihre Beweggründe, ein Pseudonym zu verwenden, erklärt Doris Gercke so: „Ich musste einfach von dieser Bella weg und davon, dass ich dauernd mit ihr identifiziert wurde. … Ich habe deshalb beschlossen, unterzutauchen. Auf der anderen Seite wollte ich natürlich trotzdem arbeiten: also schreibe ich mit Pseudonym.“ Bisher sind drei Milena-Proháska-Krimis erschienen. 2016 verlegte der Innsbrucker Haymon Verlag die ersten beiden neu, denen ein dritter, gerade fertiggestellter folgte. Die Abstinenz von Bella dauerte nur zwei Jahre.

Sie schreibe, weil „Schreiben eine brauchbare Form (ist), mit gesellschaftlichen Entwicklungen umzugehen, um für mich persönlich Klarheit zu gewinnen und öffentlich Stellung zu beziehen“, erklärt sie in einem Film des französischen Internet-TV-Portals mativi-marseille.fr. Sie ist sich in allen Büchern treu geblieben.

Am 7. Februar ist Doris Gercke 80 Jahre alt geworden. Wir sagen Danke für viele in jeder Hinsicht spannende Lesestunden und hoffen auf weitere.

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"Wahrheit erzeugen", UZ vom 10. Februar 2017



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