Die Perversionen der Pharmaindustrie – Abnehmspritze als Profitgarant

Wahnsinn mit System

Robert Profan

Die Pharmaindustrie befindet sich in dem Dilemma, einerseits nützliche und nachgefragte Medikamente erforschen und produzieren zu müssen, daraus aber gleichzeitig möglichst viel Profit zu schlagen. Die Absatz- und Gewinnmöglichkeiten sind jedoch limitiert durch die Anzahl der Patienten, die ein Medikament brauchen. Daher versucht das Pharmakapital, diese Beschränkung auf verschiedene Weise zu umgehen. Die Mondpreise werden vor allem bei patentierten Medikamenten mit unglaubwürdig hohen Forschungskosten gerechtfertigt. Darüber hinaus werden die Preise immer wieder mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen begründet, der zu riesigen Einsparungen an anderer Stelle führen würde – etwa die Preise für die Impfungen während der Corona-Pandemie.

Eine weitere Strategie besteht darin, sich zusätzliche Kunden und Umsätze durch eine Risikoerweiterung zu schaffen – etwa indem die Cholesteringrenzwerte über die Jahre immer weiter reduziert wurden, ab denen Cholesterinsenker prophylaktisch verordnet werden sollen.

Pillen für die Massen

Besonders vorteilhaft ist es aber, Medikamente gar nicht nur für Kranke oder Risikogruppen zu entwickeln, sondern für die Gesamtbevölkerung. Dies war in den 1960er Jahren die Antibabypille, die den gebärfähigen Frauen die Möglichkeit eröffnete, selbstständig zu entscheiden, wie sie ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben wollten. Aber auch die völlig leichtfertige Verbreitung von Beruhigungs- und Schlafmitteln – ebenfalls in den 1960er Jahren – wie beim Tranquilizer Valium vom Pharmagiganten Hoffmann-La Roche, den die Rolling Stones damals als „Mother’s Little Helper“ besangen, mit dem Millionen Hausfrauen ihrer tristen und deprimierenden Situation zu entkommen versuchten. Die Suchtgefahr wurde unter den Teppich gekehrt und in ihrem Ausmaß erst später festgestellt. Noch dramatischere Folgen hatte der völlig kritiklose und großflächige Vertrieb des „sanften“ Schlafmittels Contergan durch Grünenthal, das selbst für schwangere Frauen als ungefährlich gepriesen wurde, bis zigtausende Frauen Kinder mit Missbildungen zur Welt brachten.

Den nächsten großen Coup landete die Firma Pfizer Ende der 1990er Jahre mit dem Potenzmittel Viagra, das dem US-Konzern bis zum Ablauf des Patents 2012 einen Umsatz von 24 Milliarden US-Dollar bescherte. Ein weiterer Wachstumsmarkt für die Pharmaindustrie ist der Bereich der sogenannten Zivilisationskrankheiten, die durch die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie ungesunde Ernährung getriggert werden. Hierzu gehört zum Beispiel die steigende Anzahl an Patienten mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) und mit Adipositas (Fettleibigkeit) mit zunehmenden Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz, Nierenschäden.

Der Hype mit der Abnehmspritze

Hier beginnt nun die Erfolgsgeschichte des weltweit größten Pharmakonzerns für Insulin bei Diabetes, des dänischen Pharmagiganten Novo Nordisk. Bei der Suche nach einem neuen Diabetesmedikament stießen die Forscher des dänischen Konzerns auf die Substanz Semaglutid, das zwischenzeitlich als Ozempic zur Behandlung von Diabetes und in höherer Dosierung als Wegovy zur Therapie bei Adipositas in den USA und Europa ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 zugelassen und seitdem rezeptpflichtig verfügbar ist.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Adipositas, die genetisch, durch andere Krankheiten oder auch psychosomatisch bedingt ist, gilt zwischenzeitlich als eine ernste Erkrankung, die behandelt werden sollte. Das Problem dabei war, dass es bisher kein wirklich hilfreiches Medikament gab. Das hat sich mit Semaglutid grundlegend geändert, zumal das Medikament bisher nur geringe kurzzeitige Nebenwirkungen hat. Dabei handelt es sich um eine hormonähnliche Substanz, die man einmal wöchentlich unter die Haut spritzen muss und welche die Insulinfreisetzung im Körper steigert und damit zur verbesserten Blutzuckersenkung bei Diabetikern Typ 2 beiträgt. Es ahmt die Wirkung des Darmhormons GLP-1 nach, das nach jeder größeren Mahlzeit im Dünndarm erzeugt wird und das der Bauchspeicheldrüse signalisiert, mehr Insulin zu produzieren.

Als sehr erwünschten und überraschenden Nebeneffekt konnten die Forscher bei den ersten klinischen Tests an Patienten feststellen, dass diese langsam, aber kontinuierlich an Gewicht verloren. Denn das synthetische Hormon signalisiert gleichzeitig dem Gehirn, dass man satt ist. Diese zusätzliche Beobachtung führte schließlich auch noch zur Zulassung von Semaglutid für die Behandlung von Adipositas unter dem Handelsnamen Wegovy. Das war der Startschuss für Novo Nordisk, eine weltweite Kampagne zu starten, denn damit öffnete sich schlagartig ein riesiger Markt. Allein in Deutschland gibt es etwa zwölf Millionen Menschen mit Adipositas. Gleichzeitig muss die Spritze langfristig – eigentlich lebenslang – verabreicht werden, da es sonst zu einem Jo-Jo-Effekt kommt und das Gewicht nach Absetzen der Spritzenbehandlung gleich wieder in die Höhe schnellt. Also ideale Voraussetzungen für die Kapitalisten von Novo Nordisk zur Erzielung riesiger Gewinne.

Die Firma ist zwischenzeitlich mit einer Marktkapitalisierung von 640 Milliarden US-Dollar mehr wert als das gesamte dänische jährliche Bruttoinlandsprodukt. Der Umsatz wuchs 2023 um mehr als ein Drittel, der Nettogewinn stieg um 51 Prozent auf 12,1 Milliarden US-Dollar. Und die Steigerungsraten sind noch lange nicht am Ende. Eine Jahrestherapie kostet derzeit knapp 4.000 Euro. Die Kosten sind außergewöhnlich hoch. Wenn die deutschen gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für alle Menschen mit Adipositas übernehmen müssten, würden derzeit etwa 46 Milliarden Euro pro Jahr anfallen, so viel wie für alle anderen Medikamente zusammen. Doch bisher muss der Patient die etwa 300 Euro pro Monat selbst bezahlen, da das Sozialgesetzbuch für die Kassen festlegt, dass Medikamente, die der Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits dienen, nicht von den Kassen übernommen werden müssen, selbst wenn es sich um krankhaftes Übergewicht handelt. Bisher übernehmen die Kassen also nur die Kosten von Semaglutid in Form von Ozempic für bestimmte Patienten mit Diabetes mellitus.

Der Markt regelt nichts

Das bedeutet aber nicht, dass seit der Zulassung von Wegovy 2022 als Abnehmspritze kein Run auf das Medikament erfolgt wäre. Die Reichen und auch der gehobene Mittelstand weltweit können sich eine solche Kur locker leisten, auch wenn nur etwas Bauchspeck weg soll und eigentlich keine medizinische Indikation vorliegt. Kelly Osbourne, Elon Musk und Robbie Williams sind in den sozialen Medien dafür hervorragende Werbeträger – und einen Arzt, der das Privatrezept ausstellt, findet man immer. Das führte zwischenzeitlich dazu, dass die Spritzen für Patienten mit Diabetes oder anderen medizinischen Bedürfnissen nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen. Denn Novo Nordisk und jetzt auch der US-Pharmakonzern Eli Lilly, der ein Konkurrenzpräparat entwickelt hat, kommen mit der Produktion der Nachfrage nicht mehr hinterher, obwohl sie auf Teufel komm raus investieren und expandieren angesichts der traumhaften Gewinnchancen.

Die Kassen in der Schweiz und der nationale Gesundheitsdienst in Britannien bezahlen schon für die Spritzenbehandlung – unter sehr restriktiven Voraussetzungen und nur für maximal zwei Jahre. Auch bei uns werden die Kassen mittelfristig bei bestimmten Patienten für die Spritzen zahlen müssen, da erste Studien bei Patienten mit Adipositas und zusätzlich Bluthochdruck zeigen, dass mit der Gewichtsabnahme auch das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Nierenschäden signifikant abnimmt. Dass der Preis für die Abnehmspritze bei Ausweitung der medizinischen Indikationen und aufkommender Konkurrenz wesentlich zurückgehen würde, ist angesichts der Monopolbedingungen ein frommer Wunsch. Wenn weitere Studien zeigen, dass die neuen Abnehmmedikamente erheblichen gesellschaftlichen Nutzen durch Verbesserung der Arbeitskraft und weniger Folgeerkrankungen haben, dann wird das die Pharmakonzerne erfahrungsgemäß befeuern, weiterhin die hohen Preise durchzusetzen.

Gebremst werden könnte die Langzeittherapie mit den neuen Abnehmspritzen nur teilweise durch das Auftreten von Langzeitnebenwirkungen, die bisher noch nicht bekannt sind und auch noch nicht bekannt sein können, da Semaglutid erst seit 2022 in größerem Stil eingesetzt wird. Erinnert sei an den heute fast vergessenen Arzneimittelskandal mit dem „Schlankheitsmittel“ Menocil, das in Deutschland eine Zulassung hatte. Zehntausende Frauen schluckten den Appetitzügler in den 1960er Jahren, bevor etwa 850 von ihnen schwer an Lungenhochdruck erkrankten und mindestens 20 Menschen starben. Obwohl die Zulassungsrichtlinien zwischenzeitlich verschärft wurden, gibt es auch heute bei neuen Medikamenten ein Risiko aufgrund noch nicht bekannter Langzeitnebenwirkungen. Die Anwendung der modernen Abnehmspritzen ohne gesicherte medizinische Indikation, nur um ein paar Fettpolster loszuwerden, ist daher unverantwortlich und risikoreich. Doch relativ viele Menschen können sich in der westlichen Welt offensichtlich dieses Risiko leisten, sonst wären die Umsätze von Novo Nordisk und Eli Lilly nicht zu erklären, an deren Begrenzung die Pharmagiganten auch keinerlei Interesse haben. Es hat sich sogar schon ein unregulierter Internet-Schwarzmarkt gebildet, um an das Medikament auch ohne Rezept zu gelangen.

Diese absurde und perverse Situation ist dabei kein Zufall, sondern die Konsequenz der kapitalistischen und monopolisierten Pharmaindustrie. Forschung und Produktion folgen nicht einer planvollen Entwicklung entsprechend den Bedürfnissen einer Gesellschaft und ihrer Patienten, sondern orientieren sich spätestens nach der Zulassung an Gewinnerwartungen und Gewinnrealisierung. Die Arzneimittelgesetze hierzulande garantieren dabei auch noch die völlig überzogenen Monopolpreise im Vergleich zu anderen Ländern. Der Markt regelt dabei vor allem während der Phase der 15- bis 20-jährigen Patentdauer gar nichts. So findet eine andauernde Umverteilung von gesellschaftlich erwirtschafteten Milliarden aus den Krankenkassen in die privaten Finanzkassen der Pharmakonzerne statt.

Der doppelte Reibach

Es gibt einen gewissen Anteil in unserer Bevölkerung mit deutlichem Übergewicht, das durch genetische Faktoren und andere Erkrankungen auch psychosomatischer Natur bedingt ist und medizinisch behandelt werden sollte. Das Gros des Übergewichts in der westlichen Welt ist jedoch durch die Arbeits- und Lebensbedingungen und namentlich auch durch ungesunde Ernährung bedingt. Laut Robert-Koch-Institut sind 46 Prozent der Frauen und 60,5 Prozent der Männer bei uns von Übergewicht betroffen. Das beginnt schon bei einem zunehmenden Teil der Kinder. Das Interesse des Monopolkapitals und seines Staates, dies zu ändern, ist dabei höchstens auf Mahnungen und verbale Appelle gerichtet: Der Einzelne soll doch bitte gesünder leben und essen. Aber selbst bei der Begrenzung der Zuckermenge in Getränken und Nahrungsmitteln halten sich die Regierungen in der EU seit Jahren zurück. Das ist nicht verwunderlich, da trotz aller vorgetäuschten Vielfalt in unseren Supermarktregalen weltweit im Wesentlichen nur neun Großkonzerne bestimmen, was die Nahrungsmittel beinhalten sollen. Das sind die Konzerne Nestlé, Coca-Cola, Mars, Danone, Mondelez (Milka), Kellogg’s, PepsiCo, Kraft Heinz und Unilever. Das Interesse der Nahrungsmittelkonzerne an steigenden Absatzmengen ihrer Produkte mit der Folge von zunehmend Übergewichtigen besonders in den USA und Europa kommt den Pharmakonzernen hinsichtlich der Abnehmmedikamente gerade gelegen. Da lassen sich gleich zweimal Gewinne erzielen – und so fügt sich eins zum anderen. Dieser Irrsinn hat leider System und er wird nicht enden, solange die breite Bevölkerungsmehrheit nicht dem Wahnsinn des Monopolkapitalismus ein Ende bereitet. Da können die Konzerne zwischenzeitlich ganz beruhigt weiter ihre Milliardengewinne einstreichen.

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"Wahnsinn mit System", UZ vom 11. Oktober 2024



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