Türkei: Erdogan lässt abriegeln

Wahlkrieg

Von Olaf Matthes

„Dass wir als HDP 13 Prozent der Stimmen erhalten haben, hat alle Pläne der Regierung kaputtgemacht.“ Mithat Sancar ist einer der Abgeordneten der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP), die im Juni die Zehn-Prozent-Hürde überwinden und in die Nationalversammlung der Türkei einziehen konnte. Die herrschende AKP hatte sich das Ziel gesetzt, eine Mehrheit von 60 Prozent der Parlamentssitze zu erreichen. Damit hätte sie die Verfassung ändern und die Macht des Präsidenten Erdogan weiter ausbauen können.

Wir treffen Sancar an einer Straßensperre 14 Kilometer vor seiner Heimatstadt Nusaybin in der türkischen Provinz Mardin, direkt an der Grenze zu Syrien. Er kommt uns entgegen, weil unser Bus von einer Straßensperre der Gendarmerie, einer paramilitärischen Polizeitruppe, aufgehalten wird. Mit einer Delegation von Friedensaktivisten, Politikern und Journalisten sind wir gekommen, um die Auswirkungen der neuesten Angriffe von türkischem Militär und Polizei auf die kurdische Bevölkerung zu dokumentieren, Solidarität zu zeigen und in unseren Ländern zu berichten. Eingeladen hatte der „Friedensblock“, ein HDP-naher Zusammenschluss linker Parteien, Gewerkschaften und anderer Organisationen, die deutsche Beteiligung hatte die DIDF organisiert. Aus den Niederlanden ist eine Abgeordnete der Sozialistischen Partei gekommen, aus Österreich Landes- und Bundespolitiker der Grünen, aus Deutschland unter anderem Ursula Schumm-Garling für den Bundesausschuss Friedensratschlag und Inge Höger, Bundestagsabgeordnete der Partei die Linke.

Seit dem 1. Oktober herrscht in Nusaybin Ausgangssperre. Die Truppen der Regierung setzen sie durch, indem sie schießen, wenn sich jemand an der Tür zeigt. Wir hören, dass sie bisher 14 Einwohner der Stadt erschossen haben, offizielle Angaben gibt es noch nicht. Die Stadt ist abgeriegelt. Nach türkischem Recht kann die Regierung den Ausnahmezustand ausrufen – aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Den Ausnahmezustand in Nusaybin hat sie nicht erklärt.

An der Straßensperre, die die Gendarmen unseretwegen errichten, erklärt einer von ihnen: Eine Ausgangssperre gebe es nicht. Sancar, der HDP-Abgeordnete, wird – wie seine Kollegen – trotz dieser Behauptungen nicht in die Stadt gelassen. Am Stadtrand hatte er mit einer Gruppe von einigen Hundert anderen gegen die Angriffe der Armee protestiert. Nun, nachdem er zu uns gestoßen ist, telefoniert er mit Behörden in der Hauptstadt, um zu erreichen, dass wir durchgelassen werden. Werden wir nicht, eine offizielle Begründung dafür gibt es auch nicht, wir fahren zurück und versuchen, die Sperre zu umfahren. Die Straßen werden schmaler und staubiger, schließlich kommen wir zu der Gruppe der Protestierenden an der Absperrung am Stadtrand. Mit Sturmgewehren, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen blockiert die Polizei den Zugang zur Stadt – angeblich, um „Terroristen“ zu bekämpfen und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Tatsächlich geht es um etwas anderes: In Nusaybin, einer Stadt von 120 000 Einwohnern, hatte die HDP bei den Wahlen im Juni über 90 Prozent der Stimmen erhalten. Die Regierung greift die Gegenden an, in denen die Opposition besonders stark und die kurdische Befreiungsbewegung besonders tief verwurzelt ist – gerade mit Blick auf die kommenden Wahlen. Denn nach den Juni-Wahlen hatte sich keine Regierungskoalition gebildet, Erdogan ließ Neuwahlen ausrufen, seinen Wahlkampf führt er auch mit Granaten und Maschinengewehren.

„Die Regierung will die Bevölkerung brechen“, erklärt Sancar, sie erhoffe sich, dass die Angriffe im Osten des Landes auch im Westen einschüchtern. Die Regierung wolle die HDP mit, so Sancar, mit der PKK gleichsetzten – aber gerade die HDP sei die Kraft, die in der Lage wäre, in dem Konflikt zu vermitteln. Er erzählt von der Tradition des Widerstandes in der Region, davon, dass die Menschen hier auch mit einfachen Waffen in der Lage sind, sich zu verteidigen. Die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen – das bedeutet aus seiner Sicht, die Unterdrückung des kurdischen Volkes zu beenden, „auf friedliche Weise, mit demokratischem Ziel“.

„An den Umfragen sehen wir“, so Sancar, „dass die Taktik der Regierung vollkommen erfolglos ist.“ Die Menschen lassen sich nicht einschüchtern, er beobachtet vielmehr, dass der Zorn auch unter „unpolitischen“ Menschen wächst. „Sie werden verlieren – aber wir fürchten, dass wir dabei Menschenleben verlieren werden.“

Schließlich genehmigt uns das Militär, auf einer vorgegebenen Route durch die Stadt weiter in das 90 Kilometer entfernte Cizre zu fahren, das dieselben Angriffe vor einigen Wochen erlebt hat. Wir fahren am Stadtrand entlang, von zwei Fahrzeugen eskortiert, und sehen eine Stadt, aber keine Menschen. Die Straßen sind leer, nur die gepanzerten Polizeiwagen patroui­llieren durch Nusaybin. Hinter der Stadt, an einem Geschäft, erzählt ein Mann aus Nusaybin, dass er seit Tagen nicht nach Hause kommt, aber sein Vater ist dort. Er wundert sich, dass man uns durchgelassen hat – ein paar Stunden zuvor hat er mit seinem Vater telefoniert und gehört, dass die Polizisten Warnschüsse abgeben, wenn sich jemand nur am Fenster zeigt.

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"Wahlkrieg", UZ vom 9. Oktober 2015



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