Die Rettungsarbeiten liefen noch auf Hochtouren, da begann bereits der Kampf um die politische Deutungshoheit. Soeben war der mutmaßliche Täter Taleb A. in die Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast, hatte 200 Menschen verletzt und fünf getötet. Schon stapfte eine Horde von Journalisten zwischen den Rettungssanitätern umher und zerrte Augenzeugen vor die Mikrofone und Diktiergeräte. Die Sensationslust ließ sich kaum verbergen. „So wie es aussieht, scheint das hier eine größere Nummer zu werden“, berichtete dann auch ein MDR-Korrespondent „live vor Ort“. Im Hintergrund der Schalte wurde währenddessen am Abtransport von Verletzten gearbeitet.
Wer den Liveblogs am Freitagabend folgte, erfuhr, dass der Täter aus Saudi-Arabien stamme, aber „bisher nicht als Islamist in Erscheinung getreten“ sei, offenbar die einzig denkbare Annahme bei einem arabischen Tatverdächtigen. Später sollte man erfahren, dass Taleb A. ein ausgesprochener Islamhasser war – der „aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte“, wie er in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Jahr 2019 selbst erzählte. Auf seinem X-Profil bezeichnete er sich außerdem als Teil einer „saudischen militärischen Opposition“. Dort warnte er auch vor einer „Islamisierung“ Europas, unterstützte die AfD und die israelische Regierung – bis hin zur Forderung nach einem „Großisrael“.
Kurz nach den bürgerlichen Journalisten pilgerten die Wahlkämpfer nach Magdeburg. Weder CDU-Chef Friedrich Merz noch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch Umweltministerin Steffie Lemke (Grüne) wollten sich die Gelegenheit entgehen lassen, mit ihrer zur Schau gestellten Betroffenheit um Stimmen zu werben. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) war mit von der Partie. Es gelte, „alle Erkenntnisse zusammenzufügen, die ein Bild über diesen Täter ergeben, der in kein bisheriges Raster passt“, ließ die Ministerin verlauten.
Solche Äußerungen legen nahe, dass reaktionäre Gedankenwelten und antimuslimische Hetze wohl allein weißen Männern, Frauen und Innenministerinnen vorbehalten sein sollen. Bei genauerem Hinsehen passt der Attentäter nämlich sehr gut ins Raster – zumindest in das Raster der Ansichten, die in den vergangenen Monaten von der „demokratischen Mitte“ bis zum rechten Rand propagiert wurden. Als Freund eines „Großisraels“, als „Islamkritiker“ und arabischer „Oppositioneller“ erfüllte Taleb A. alle Prüfsteine, mit denen Migranten in Deutschland auf ihre ideologische Eignung abgeklopft werden. Erinnert sei an die bekanntgewordenen Einbürgerungstests, in denen sich die Prüflinge zum Existenzrecht Israels bekennen oder gegen bestimmte Islam-Interpretationen wenden müssen. Taleb A., der zudem auch noch als Arzt tätig war, war in diesem Sinne ein Paradebeispiel für die Integration in „westliche Werte“ und „Staatsräson“.
Was in den kommenden Wochen bis zur Bundestagswahl passieren wird, ist nicht schwer zu erraten. Der rechte Rand wird den Migrationshintergrund des Attentäters nutzen, um rassistische Hetze zu betreiben, alle Araber zu potentiellen „Terroristen“ zu machen und mehr Abschiebungen zu fordern – wahrscheinlich im Einklang mit dem bürgerlichen Block von SPD, Grünen, CDU und FDP. Am Samstag demonstrierten bereits mehrere hundert Neonazis am Magdeburger Hauptbahnhof. Die AfD hat eine „Kranzniederlegung“ inszeniert und will an diesem Montag einen „Trauermarsch“ veranstalten. Damit schließt sie sich im eigenen Habitus den anderen Berliner Betroffenheitstouristen an.
Die teils wirren Äußerungen und Auftritte von Taleb A. werden dazu dienen, den Boulevard mit küchentischpsychologischen Spekulationen über den Gesundheitszustand des Amokfahrers zu füttern. Über seine proisraelische Haltung wird man hingegen zügig hinweggehen. Auch, um zu verhindern, dass der Terror von Magdeburg einen Schatten wirft auf die politische Unterstützung des tagtäglichen israelischen Terrors gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza.
Doch nicht alle wollen bis zur Bundestagswahl warten, um politisches Kapital zu schlagen. Innenministerin Faeser forderte CDU und FDP auf, noch vor der Wahl für die notwendigen Mehrheiten zu sorgen, um Polizei und Geheimdiensten mehr Befugnisse zu geben. Die entsprechenden Gesetzesentwürfe habe die Ampel bereits auf den Weg gebracht. Sie „könnten sofort beschlossen werden“.
Dazu gehört das verfassungsrechtlich hoch umstrittene Bundespolizeigesetz. Die Bundespolizei soll neue Befugnisse erhalten, unter anderem zur Telekommunikationsüberwachung, zum Einsatz eigener Drohnen, zur Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern sowie zum Erlass von Meldeauflagen und Aufenthaltsverboten. Vorgesehen sind auch „Sicherheitsüberprüfungen“, um „Extremisten“ vom Dienst auszuschließen – also Berufsverbote zu erlassen. Zudem soll die Praxis des „Racial Profilings“ legalisiert werden – wer betroffen ist, darf sich zukünftig einen Beleg ausstellen lassen.
Kaum vorstellbar, dass diese Mittel den Besucherinnen und Besuchern des Magdeburger Weihnachtsmarktes geholfen hätten. Der Anschlag zeigt vielmehr, wie ernst die selbsternannten „Sicherheitspolitiker“ ihre eigenen Behauptungen nehmen. Spätestens seit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016 wurde alljährlich vor der Gefahr gewarnt, dass ein Wahnsinniger mit einem Auto oder LKW in einen Weihnachtsmarkt fahren könnte. An allen Ecken und Enden aufgestellte Betonpoller demonstrierten die Entschlossenheit, diesen Angriffen zu widerstehen. Der Amokfahrer in Magdeburg nutzte die Rettungswagenzufahrt. Damit habe man nicht rechnen können, so der verantwortliche Ordnungsdezernent.
Was als „Sicherheitspolitik“ daherkommt, soll in Wahrheit ein gesellschaftliches Angstgefühl erzeugen und die Einschränkung von Grundrechten, das Verbot von politisch ungenehmen Vereinen und vor allem die Aufrüstung – auch der Polizei – erleichtern. Diesem Muster folgend, instrumentalisieren Faeser und ihre Mitstreiter im bürgerlichen Block die Geschehnisse von Magdeburg, um den reaktionär-militaristischen Staatsumbau voranzutreiben.