Schlechte Bezahlung, rechtlose Fahrradkuriere und katastrophaler Arbeitsschutz bei „Lieferando“. Die sogenannten „Rider“ wehrten sich und gründeten in Köln mit Hilfe der Gewerkschaft NGG und der Initiative „Liefern am Limit“ einen Betriebsrat – gegen den Widerstand und Untergrabungsversuche der Betriebsleitung. UZ sprach mit Semih Yalcin, Betriebsratsvorsitzender bei Lieferando in Köln, und mit Orry Mittenmayer von der Initiative „Liefern am Limit“.
UZ: Orry, wir haben uns vor fast genau zwei Jahren das letzte Mal gesprochen. Damals hast du mit deinen Kollegen gegen den vehementen Widerstand der Betriebsleitung bei „Deliveroo“ einen Betriebsrat gegründet. Jetzt das Gleiche bei Lieferando, oder gibt es Unterschiede?
Orry Mittenmayer: Die Muster sind ähnlich, jedoch sagte Lieferando damals ganz klar, dass sie keinen Betriebsrat wollen, weil das nicht zur Kultur eines jungen und modernen Unternehmens passe. Lieferando ist jetzt anders herangegangen. Sie haben eine eigene Liste aufgestellt und versucht, die Belegschaft zu spalten. Sie haben argumentiert, dass die Fahrer von „Foodora“, die erst kürzlich von Lieferando geschluckt wurden, nicht zum Unternehmen gehören.
Semih Yalcin: Das ist aber eine künstliche Trennung. Der Personaleinsatz erfolgt gemeinsam, die Klamotten sind dieselben und nach innen und nach außen treten wir einheitlich auf. Dagegen haben wir zwei Mal vor dem Arbeitsgericht in Köln geklagt und beide Male Recht bekommen.
Orry Mittenmayer: Jedoch berichten Fahrer von einer Art Zweiklassensystem bei Lieferando. Ex-Foodora-Fahrer werden benachteiligt, weil die Verträge von Foodora besser waren, da sie einen Betriebsrat hatten. Lieferando-Fahrer werden bevorzugt und bekommen schneller alle Infos und Schutzmaterialien, während bei den Foodora-Fahrern alles immer erst mit Zögern passiert.
UZ: Und wie ist die betriebseigene Betriebsratsliste entstanden.
Semih Yalcin: Es gab zuerst eine gewerkschaftsnahe Liste, die „Guardians of the Galaxy“, für die ich auch angetreten bin. Dann hat sich eine Liste gegründet, deren vordere Plätze mit Vorgesetzten aus dem Kölner Lieferando-Büro, dem „Hub“, besetzt waren. Davor gab es schon einen „Hub-Rat“, der als eine Art Gegenmodell zu einem Betriebsrat dienen sollte. Seine Aufgabe war es, Kleinigkeiten umzusetzen und die Betriebsabläufe zu verbessern. Die restlichen Kandidaten stammten aus diesem Hub-Rat.
UZ: Wie liefen dann die Wahlen ab?
Semih Yalcin: Die Wahlen fanden am 6. April im Betriebsratsbüro in der Kölner Innenstadt statt. Zuvor hatte Lieferando versucht, die Wahlen im Hub stattfinden zu lassen. Der Betriebsleiter von Lieferando Köln, der sogenannte „City-Coordinator“ stellte sich dann am Eingang des Wahllokals hin und machte Werbung für die betriebseigene Liste. Er kandidierte auch auf dieser Liste und ist jetzt Betriebsrat.
Ich war im Wahlvorstand und nachdem sich eine Traube um ihn gebildet hatte, die ihn zur Rede stellen wollte, bin ich zu ihm hin und habe ihn aufgefordert, er solle das unterlassen. Er hat sich nur kurz daran gehalten. Ich war dann nicht mehr vor dem Wahllokal, aber er soll dann Sprüche gebracht haben, wie „Jetzt geht euch der Arsch auf Grundeis“ oder „Ihr werdet eh nur Scheiße im Betriebsrat bauen“ und soll angeblich Prügel angedroht haben. Er wollte nicht aufhören, die Wahlen zu beeinflussen, dann hat der Wahlvorstandsvorsitzende die Polizei gerufen. Die erteilte dem City-Coordinator schließlich einen Platzverweis. Dann konnte die Wahl reibungslos vonstatten gehen.
UZ: Die gewerkschaftsnahe Liste konnte die Mehrheit bei den Wahlen erringen. Wie sieht jetzt die Zusammenarbeit mit den betriebseigenen Betriebsräten aus?
Semih Yalcin: Das war ein großer Erfolg, weil Lieferando alles getan hat, um uns das Leben schwer zu machen. Der Arbeitgeber hat uns zum Beispiel nicht die E-Mail-Adressen der Mitarbeiter zur Verfügung gestellt, damit wir nicht mit der Belegschaft kommunizieren können.
Ich denke, mit einigen werden wir gut zusammen arbeiten. Mit anderen wiederum weniger, denn wir sind in einer Konfrontation. Der Arbeitgeber will uns loswerden. Wir werden es sehen, wenn die Verträge der kritischen Betriebsräte auslaufen und dann wohl nicht verlängert werden. Das ist ja eine bekannte Taktik.
UZ: Vor zwei Jahren gab es ein großes Medienecho auf die Betriebsratsgründung bei Deliveroo und „Liefern am Limit“. Heute hört man fast nichts. Woran liegt es?
Orry Mittenmayer: Das liegt zum einen an der Corona-Krise, zum anderen konzentrieren wir uns von „Liefern am Limit“ stärker darauf, Basisarbeit zu machen. Wir sprechen die Fahrer persönlich an, rufen sie an und verwickeln sie in Gespräche. Mit der NGG zusammen machen wir sogenannte „Rider days“. Eine Belegschaft mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad besucht eine andere Stadt, die noch einen niedrigen Organisierungsgrad hat. Dort machen wir Veranstaltungen, die wir in der dortigen Rider-Szene bewerben.
UZ: Apropos Corona-Krise, wie sieht es bei Lieferando mit dem Arbeitsschutz aus?
Orry Mittenmayer: Der Arbeitsschutz ist katastrophal. Wochenlang hat Lieferando weder Masken noch Desinfektionsmittel noch Handschuhe ausgeteilt, was extrem fahrlässig ist. Zwischendurch hatten sie Desinfektionsmittel ausgeteilt und dann behauptet, dass unsere Kritik Schwachsinn wäre.
Aber warum dauert das vier bis fünf Wochen, bis die Rider sich schützen? Die Rider mussten ungeschützt durch die Stadt radeln und sich potenziell anstecken oder eine potenzielle Gefahr sein für Kunden, Familien, Freunde und Mitbewohner.
Semih Yalcin: Lieferando hat die kontaktlose Lieferung eingeführt. Wirklich kontaktlos ist sie nicht, das ist mehr so eine Art Symbolpolitik. Der Kunde nimmt sich das Essen selber aus der Box. Aber vorher hat der Rider das Essen und die Tüte auch angefasst.
Über einen „Corona-Call“ bekommen wir Betriebsräte von der Arbeitgeberseite einmal die Woche Infos. Aber es ist sehr undurchsichtig. Es hieß, jetzt werden Sachen verschickt und ein Teil der Belegschaft hat schon ein Päckchen erhalten. Ich selber warte zum Beispiel immer noch auf dieses Päckchen, wo Desinfektionsmittel, Handschuhe und Masken drin sein sollen.
Orry Mittenmayer: Vor zwei Wochen hieß es noch, es soll einen Kostenauslagenersatz geben. Die Verantwortung für die Beschaffung von Schutzmitteln sollte auf die Rider abgewälzt werden. Die Pauschale sollte aus der Leistung der Rider errechnet werden. Das hätte geheißen, dass du dich zu Tode strampeln und unglaublich viele Orte beliefern musst, bis die Pauschale so hoch ist, damit du dir ausreichend Schutzmaterialen leisten kannst.
Das Gespräch führte Christoph Hentschel