UZ: Ihr habt bei VW Osnabrück eine Aktion zur Rente durchgeführt und euch damit hinter die Forderungen der IG Metall gestellt. Was fordert die IG Metall, was ist den Kolleginnen und Kollegen besonders wichtig?
Achim Bigus: Die IG Metall hat Anfang des Jahres eine groß angelegte Befragung unter den Arbeitenden in ihrem Organisationsbereich durchgeführt, also in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie, aber auch der Stahlindustrie, der Holz- und Kunststoff- sowie der Textil- und Bekleidungsindustrie und im Handwerk. Die Fragen drehten sich zum einen um die Situation und die Ansprüche der Beschäftigten zum Thema Arbeitszeit, zum anderen um verschiedene sozial- und gesellschaftspolitische Fragen, darunter auch Rente und Krankenversicherung. Bundesweit haben sich daran über 680 000 Menschen beteiligt, bei Volkswagen Osnabrück gut 1 200, das war bei uns fast jeder zweite Beschäftigte. Drei Ergebnisse fanden wir besonders bemerkenswert: Erstens, dass 85 Prozent der Befragten eine Stabilisierung und Erhöhung des Rentenniveaus wollten, auch wenn dadurch die Beiträge von Unternehmern und Arbeitenden zur gesetzlichen Rentenversicherung steigen, zweitens, dass 87 Prozent meinen, dass Vorsorge über private Versicherungen die Lücke nicht schließen kann, welche die Absenkung der gesetzlichen Rentenniveaus reißt, und drittens, dass 95 Prozent eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung fordern, also gleiche Beiträge für Unternehmen und Beschäftigte.
In allen drei Fragen gleichen die Antworten bei VW Osnabrück den bundesweiten Ergebnissen. Damit stehen 85 bis 95 Prozent der Beschäftigten in diesen Fragen in direktem Gegensatz zu der großen Linie der Renten- und Sozialpolitik aller Bundesregierungen seit Bundeskanzler Schröder.
Diese Ergebnisse wollten wir nicht nur der Belegschaft und der Geschäftsführung, sondern auch der Öffentlichkeit vorstellen. Wir haben dafür unsere turnusmäßige Betriebsversammlung genutzt und dieses Thema eben nicht in der Halle, sondern unter freiem Himmel behandelt und dazu die Presse eingeladen.
UZ: Ist Altersarmut denn ein Problem, von dem ihr betroffen seid? VW-Beschäftigte verdienen doch überdurchschnittlich gut.
Achim Bigus: Ja, die Beschäftigten bei Volkswagen sind sehr gut organisiert und verdienen dementsprechend relativ gut. Aber die Rentenreformen seit Riester haben ja für alle das Rentenniveau abgekoppelt vom Prinzip der Lebensstandardsicherung. Damit haben sie eine kontinuierliche Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus eingeleitet. Altersarmut droht damit in Zukunft nicht nur Geringverdienern, sondern immer mehr auch durchschnittlich Verdienenden. Zusätzlich wurde mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 de facto eine weitere Rentensenkung durchgeführt für alle, die nicht so lange durchhalten und dann Abschläge für früheren Renteneintritt in Kauf nehmen müssen. Beides betrifft alle Beschäftigten, auch die relativ gut verdienenden. Außerdem gehört es zum gewerkschaftlichen Prinzip der Solidarität, dass die Stärkeren auch für die Schwächeren eintreten.
UZ: Ihr habt die Aktion während der Arbeitszeit durchgeführt – also war es ein kurzer politischer Streik?
Achim Bigus: Nein. Politische Streiks, Streiks für bessere Gesetze sind in Deutschland verboten. Das steht zwar in keinem Gesetz, ist aber herrschende Rechtsprechung seit den Auseinandersetzungen um das Betriebsverfassungsgesetz in den fünfziger Jahren. Damit ist das Streikrecht sehr viel eingeschränkter als in anderen europäischen Ländern. Den Lohnabhängigen wird das Recht bestritten, ihre wirtschaftliche Macht zur Einflussnahme auf die Politik zu nutzen, während die Kapitalbesitzer dies durch alle Formen von Lobbyarbeit ganz selbstverständlich tagtäglich tun – eine vordemokratische, obrigkeitsstaatliche Rechtsauffassung, man könnte auch sagen: Klassenjustiz.
Aber die allgemeinen demokratischen Grundrechte aus dem Grundgesetz, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, enden nicht am Werkstor – sie gelten auch während der Arbeitszeit. Mit den gesetzlich vorgeschriebenen mindestens vier Betriebsversammlungen im Jahr ist die Versammlungsfreiheit sogar im Betriebsverfassungsgesetz verankert. Wir haben einen Teil der Betriebsversammlung öffentlich durchgeführt. Eine öffentliche Betriebsversammlung ist noch lange kein politischer Streik, das kann jeder Betriebsrat tun, ohne mit der undemokratischen herrschenden Rechtsprechung in Konflikt zu geraten.
Die Befragungsergebnisse zeigen ja, wie weit sich die große Mehrheit der „Volksvertreter“ in diesen Fragen der Sozialpolitik vom Volk entfernt hat. Wenn wir das ändern wollen, dürfen wir unsere politische Meinungsäußerung als Lohnabhängige nicht auf Wahlen und auf Demonstrationen nach Feierabend oder am Wochenende beschränken. Die Gewerkschaften müssen den Belegschaften Möglichkeiten geben, ihre Forderungen kollektiv in die Öffentlichkeit zu tragen – und das heißt: in der Arbeitszeit. In diesem Sinne hat die IG Metall schon mehrfach zu Kundgebungen und Versammlungen während der Arbeitszeit zu politischen Themen aufgerufen, auch zum Thema Rente.