In Berlin leben etwa 3,1 Millionen Menschen, die älter als 18 sind. 744.195 von ihnen, etwa 23 Prozent, durften am Sonntag bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksvollversammlungen nicht abstimmen. Der „Tagesspiegel am Sonntag“ zitierte am Wahltag eine 30-jährige Iranerin, die seit sieben Jahren in der Bundesrepublik lebt, mit den Worten: „Wir sind strukturell stummgeschaltet.“
Die so schon reichlich eingeschränkte parlamentarische Demokratie ist aber auch für die 77 Prozent der Berliner, die zur Abstimmung zugelassen wurden, kaum eine Gelegenheit zur Mitbestimmung. Es bedarf keiner Gerichtsentscheidung, die ein Wahlergebnis wie das vom 26. September 2021 auf Landesebene annulliert. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur eventuellen Wiederholung der Bundestagswahl vom selben Tag in Berlin steht noch aus.
Die Spitzenkandidaten der seit 2016 regierenden Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und „Die Linke“, die für das Wahlchaos 2021 verantwortlich waren, verloren in ihren Wahlkreisen. Es ist fast 20 Jahre her, dass zum Beispiel im Nachbarbundesland Brandenburg ein SPD-Minister, der seit 1990 stets ein Direktmandat errungen hatte, sich nach dessen Verlust aus dem Kabinett zurückzog. 2023 ist daran in Berlin nicht zu denken. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) gewann ihren Neuköllner Wahlkreis 2021 mit 40,8 Prozent, nun kam sie auf 29,6 Prozent und ein CDU-Kandidat hat mehr als 15 Prozent Vorsprung. Na und? Die Landes-SPD gibt sich größtenteils loyal und lässt sie nicht fallen. Vorläufig. Die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, die am Wahlabend von ihrer Partei wie eine Siegerin bejubelt wurde, landete in dem Spandauer Wahlkreis, in dem sie angetreten war, auf Platz 4 noch hinter der AfD. Ihre 10,2 Prozent lagen unter dem Ergebnis des Grünen-Kandidaten 2021 mit damals 11,3 Prozent. Offenbar ein Grund zum Feiern.
Der „Linke“-Frontmann Klaus Lederer – angeblich laut Umfragen der beliebteste Landespolitiker – musste sich genau wie 2021 in Pankow geschlagen geben. Er immerhin sprach von einer „Denkzettelwahl”. An Rückzug denkt keiner der drei.
Der Umgang mit der Wahlzetteldemokratie hat sich in der deutschen Hauptstadt zu noch größerer Ignoranz gegenüber den Wählern als ohnehin üblich verschoben. Das bedeutet in einem starken imperialistischen Staat: nach rechts. Der Wahlsieg der Landes-CDU, die von einem AfD-Klon geführt wird, ist nur ein Ausdruck dessen. Gleiches gilt für den AfD-Rassisten Gunnar Lindemann, der am östlichen Stadtrand mit fast 30 Prozent erneut ein Direktmandat errang, ebenso wie eine weitere AfD-Kandidatin. In ihren Wahlkreisen, in denen sie unter den dort lebenden rund 30.000 sogenannten Russlanddeutschen geschickt nach Stimmen fischen, stimmten noch knapp 45 Prozent der Wahlberechtigten ab. In den Teilen desselben Stadtbezirks Marzahn-Hellersdorf, in denen nicht Plattenbauten, sondern Einfamilienhäuser das Bild prägen, ging die Wahlbeteiligung auf über 75 Prozent hoch. In der ehemaligen Hochburg der Partei „Die Linke“ holte die CDU alle anderen Mandate. In Lichtenberg dasselbe: Erstmals liegt die CDU vor der Linkspartei.
Dahinter steckt Wut. So groß sie war: Die Wähler wissen, dass sich nichts ändern wird. Die Stadtpolitik steht unter dem Diktat, sich für das internationale Kapital hübsch zu machen. Sie will also bei Mieten und Bauspekulation zu London, New York oder Singapur aufschließen. Krisen„lösung“ in einer Armutsmetropole heißt: besondere Verschärfung des Klassenkampfes. Und: Je wilder für immer mehr Waffen geworben wird, um in den Krieg gegen Russland einzusteigen (das Führungspersonal der Berliner Linkspartei ist dafür), desto mehr Wähler müssen „stummgeschaltet” werden.