Sasa Stanisic
Herkunft
Luchterhand Literaturverlag, München 2019
360 Seiten, 22 Euro
(eBook: 17,99 Euro)
Jede Literatur trägt ein Exil in sich, egal ob der Autor seine Sachen packen und mit zwanzig gehen musste oder ob er niemals sein Zuhause verlassen hat“, schreibt der chilenische Autor Roberto Bolaño (1953–2003), der selbst als Unterstützer Salvadore Allendes nach dem faschistischen Pinochet-Putsch fliehen musste und allen Widrigkeiten zum Trotz mit Mammutwerken wie dem Roman „2666“ die Buchwelt um Horizonte erweiterte.
Auch Saša Stanišic, 1978 in Jugoslawien geboren, musste 1992 fliehen, weil die Zerschlagung des Tito-Sozialismus Nationalismen und Rassismen beförderte, die die Vielvölkergemeinschaft zerschoss und aufeinanderhetzte. Stanišics Mutter hat einen arabischen Nachnamen. Als muslimische Marxismus-Dozentin lebt sie ihren Alltag aber nicht nach der Religion. Als ihr ein Polizist empfiehlt, das Heimatdorf Višegrad zu verlassen, weil es dort bald für Muslime gefährlich werden würde, sagt sie in Stanišics neuem Band „Herkunft“: „Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin?“
Das schreibt der Autor Stanišic (zuletzt: „Fallensteller“, Luchterhand 2016) und er schreibt auch: „Mutter hat nichts dergleichen gesagt. Und das war klug. Sie hat sich für die Auskunft bedankt.“ Wäre es hier reine Fiktionsspinnerei, frei und losgelöst von der Welt, er hätte es die Mutter-Figur sagen lassen.
Hier wird das Spannungsfeld deutlich, das Stanišic aufmacht: „Herkunft“ ist nicht rein autobiografisch, keine Reportage, aber auch keine bloße Literatur und weiter weg von der Gattung Roman als sein Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (btb 2006) und der zweite Titel „Vor dem Fest“ (Luchterhand 2014).
„Herkunft“ ist ein Gemenge aus Biografie, magisch-realistischer Erzählung und aufklärerischer Essayistik. Letzteres tritt abschnittsweise mehr in den Vordergrund, etwa bei der Parallelisierung der Pogromstimmung in der jungen Berliner Bundesrepublik Anfang der 1990er zum jetzigen Rechtsruck: „Heute ist der 28. August 2018. Sebastian Czaja (FDP) twittert: ‚Antifaschisten sind auch Faschisten.‘“
Fast hat man den Eindruck, Stanišic habe sich dem öffentlich-ökonomischen Druck ergeben und als gebürtiger Jugo aus einem jetzt bosnischen Dorf, dessen Muttersprache das Serbokroatische ist, ein Buch abgeliefert mit dem plakativen, im Grunde kunstunfähigen Titel „Herkunft“, das nichts ist als die Verwurstung seines Migrationshintergrundes und sich okay verkaufen wird.
Wie er bei der Rückkehr ins fast ausgestorbene Heimatdorf zu seiner Großmutter die Entfremdung vom ehemals Vertrauten spürt. Wie er nach Heidelberg kommt und eine neue Sprache mühsam erlernt. Wie der Vater mit einer seltsamen Narbe am Bein aus dem bürgerkriegszermarterten Balkan nachkommt. Wie sich der pubertierende Saša für die Armut der Eltern schämt. Wie die sich den Arsch aufreißen. Wie zum Beispiel der Vater auf Montage in den Osten fährt, wo sich gemeinsam in ein besseres Gestern zurückgedacht wird: „Vater am Stehtisch vor der Dönerbude prostet den Kollegen zu, die dort aus der Gegend kommen; er erzählt ihnen von Jugoslawien, sie erzählen ihm von der DDR. Sie sind sich im Neonlicht von Schwarzheide einig, dass sie das, was ihren untergegangenen Staaten gefolgt ist, scheiße finden.“
Wenn, ja wenn „Herkunft“ eine Auftragsarbeit der gesellschaftlichen Stigmatisierung à la „Ausländerschuster bleib bei deinem Ausländerleisten“ ist, dann unterwandern Stanišic und dessen Poetik den Auftrag erwartbar elegant und schaffen das Exil, auf das auch Bolaño abgezielt hat: Literatur an sich, die mehr bietet als bloßes Berichten. Stanišic schrumpft sich nicht zur „Migrantenliteratur“ (eine Wendung aus dem gleichen Schubfach voller Unbegriffe wie „Frauenliteratur“), nur weil er schreibt und Migrant ist und deshalb, Authentizitätsgeilheit befriedigend, nur den Botschafter spielen soll, der seine Exotik ausstellt – und nicht den Literaten, der wie in „Vor dem Fest“ auch über ein Dorf in der Uckermark schreiben kann.
Stanišic findet in „Herkunft“ durch die Literatur den Weg aus der Zwangsgemeinschaft des Schicksals, die ihn zur Flucht gezwungen hat und jetzt von ihm verlangt, so zu schreiben, wie es eine angetragene Identität ihm vorschreibt.
Sein Meisterstück im Buch, vom Bestehenden auf etwas Mögliches zu verweisen, ist der letzte Abschnitt, mit „Der Drachenhort“ überschrieben. Der ist nicht nur eine wunderschöne Ehrung der geliebten Oma mit Demenz, dieser ausweglosen Krankheit, die sich nicht für den Zufall der Herkunft interessiert, sondern nach und nach jede Identität wegradiert. Es ist auch eine Hommage an die Lektüre seiner Nerd-Jugend, die „Choose Your Own Adventure“-Spielbücher, bei der Leser und Leserin selber entscheiden, wie sich die Story entwickelt und dementsprechend durch die Seiten vor- und zurückspringen.
Stanišic tut hier genau das, was Literatur soll. Sie stellt das Mögliche aus. Der Autor dieser Zeilen hier hat sich für den Weg entschieden, wo er mit der Großmutter aus dem Altersheim flieht und sie sich miteinander auf ihrer eigenen Beerdigung ein letztes Mal viel zu erzählen haben – ein ziemlich utopisches, aber kraftvolles Exil.
Saša Stanišic hat seine Prosa im Vergleich zum Erzählband „Fallensteller“ eingängiger gemacht – und an manchen Stellen springt die Nestwärme doch in ein kleines Kitschfeuerchen über, aber ganz geht das ja nie, so komplett ohne „Herkunftskitsch“. Dennoch beweist der Leipziger-Buchmesse-Preisträger von 2014 mit „Herkunft“, dass er einer der besten Hinweisgeber in deutscher Sprache ist, auf das, was ist, in Verbund mit dem, was sein kann. Alles, was Literatur leisten kann, sagt in „Herkunft“ Saša Stanišics kleiner Sohn: „Er spielt mit einem Flugzeug. Ich frage: ‚Wo fliegst du hin?‘ Nach Split, zu Nana.‘ Er fährt Laufrad. Ich frage: ‚Wo fährst du hin?‘ – ‚Nach Afrika zu den Dinos.‘“