Muqtada al-Sadr verabschiedet sich aus der irakischen Politik

Vorübergehender Rückzug

Am 29. August, inmitten der Krise des Irak um Regierungsbildung, Forderung nach Auflösung des Parlaments, Protesten und Gegenprotesten erklärt einer der Protagonisten des Geschehens seinen Rückzug aus der Politik: Muqtada al-Sadr, ein schiitischer Geistlicher und Politiker, dessen Organisation bei den letztjährigen Wahlen die bei weitem stärkste Fraktion im irakischen Parlament bilden konnte. Sein Rückzug veranlasste viele seiner Anhänger in Bagdad, Regierungsgebäude zu stürmen, es gab 30 Tote und Hunderte Verletzte.

Achtzehn Jahre zuvor hatte die US-Armee einen Haftbefehl ausgestellt. Gesucht – „Tot oder lebendig“ – war eben jener Muqtada al-Sadr, der damals außerhalb des Irak weitgehend unbekannt war.

Sadr gründete eine Miliz, die gegen die US-Besatzungstruppen kämpfte. Für das Pentagon galt seine „Mahdi-Armee“ als die größte Bedrohung der irakischen Sicherheit. Begonnen hatte die Mahdi-Armee als Gruppe von etlichen hundert Studenten in „Sadr-City“, einem armen Stadtteil von Bagdad mit Millionen Einwohnern. Sie dehnte sich in den schiitischen Süden des Irak aus und als die Mahdi-Armee formal gegründet wurde, umfasste sie bis zu 10.000 Mitglieder.

2004 erlangte sie internationale Prominenz, als sie den Kampf gegen die US-Armee aufnahm. Vorangegangen war das Verbot von Zeitungen von al-Sadr und der Versuch, ihn festzunehmen. Erst 2008 lösten die irakischen Sicherheitskräfte auf Anweisung des damaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki in einem massiven Militäreinsatz die Gruppe auf. Al-Sadr ordnete ein Ende der bewaffneten Operationen an und erklärte, die Mahdi-Armee würde in eine kulturelle und soziale Organisation umgewandelt – die „Friedensgesellschaften“.

2014 wurde sie wieder mobilisiert, um den Kampf gegen den IS zu unterstützen. Al-Sadrs Einfluss wuchs und schon 2016 stürmten seine Anhänger das Parlament in der schwer gesicherten „Green Zone“. Er veröffentlichte ein Ultimatum: „Wenn das System der Quoten und die korrupten Politiker bleiben, werden wir die gesamte Regierung zu Fall bringen.“

Doch das System der Quoten und die korrupten Politiker blieb. Zu den Wahlen von 2018 schloss Sadr ein Bündnis mit Kommunisten und säkularen Kräften und inszenierte sich als unabhängig von USA und Iran. Sein Bündnis wurde zur stärksten Fraktion im neu gewählten Parlament. Und erneut blieben Korruption, Misswirtschaft und das von den USA eingeführte System der Quoten.

Al-Sadr war mit seiner Parlamentsfraktion wiederholt Königsmacher. Er bestimmte mit über die Wahl der Ministerpräsidenten und Vertreter seiner Partei besetzten wichtige Posten in den Ministerien. Zugleich inszenierte er sich als „die Opposition“ gegen Korruption, Misswirtschaft, für die Vertreter seiner Partei mitverantwortlich waren.
Die Massenproteste gegen Misswirtschaft und ausländischen Einfluss ab Oktober 2019 stürzten das Land in eine weitere Krise. Sadrs Organisation unterstützte die Proteste zunächst logistisch und versuchte später, sie einzudämmen. Hunderte Tote waren das Ergebnis von Gewalttaten von allen Seiten, vor allem aber durch die Sicherheitskräfte. Parteibüros und iranische Konsulate wurden verwüstet und mitten hinein in diesen Tumult stießen die USA mit der Ermordung des iranischen Generals Suleimani. Das allerdings einte die unterschiedlichen Kräfte im Irak. Nicht mehr nur der Einfluss des Iran sollte eingeschränkt werden, sondern auch der der USA.

Am Ende gab es eine neue Regierung, ein neues Wahlrecht und vorgezogene Neuwahlen. Unabhängigen Kandidaten sollte der Gewinn von Parlamentssitzen erleichtert werden, tatsächlich aber stärkte das neue Wahlrecht die Parteien, die am besten organisiert waren: Die Partei von al-Sadr wurde im Triumph zur stärksten Fraktion – hatte aber deutlich weniger Stimmen als bei der Wahl zuvor erhalten. Seine Gegner sprachen von Wahlbetrug.

Bis 2021 war Sadrs Bewegung Teil des „Coordination Framework“. Das ist ein loses Bündnis von schiitischen Parteien, die zum Teil mit dem Iran verbündet sind. Was sie heute eint, ist lediglich die Gegnerschaft gegen al-Sadr. Nach der Wahl verhinderten sie mit ihrer Sperrminorität die Regierungsbildung.

Im Juli und August versuchte al-Sadrs Bewegung – die ihre Hochburg in Sadr-City hat – mit Protesten und Blockaden im Regierungszentrum des Landes die Dominanz innerhalb der schiitischen Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen. „Es ist an der Zeit zu zeigen, wer in der Bevölkerung den größten Rückhalt genießt“, erklärte ein Verbündeter von al-Sadr damals auf Twitter.

Am Ende stand al-Sadrs überraschender – und erfahrungsgemäß vorläufiger – Rückzug aus der Politik. Die Proteste wurden beendet, die Institutionen arbeiten wieder und noch immer wird eine Regierung gesucht. Am Ende werden – vor oder nach einer Regierungsbildung – vermutlich Neuwahlen stehen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Vorübergehender Rückzug", UZ vom 16. September 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit