Der konterrevolutionäre Aufstand 1956 und Ungarn heute

Vorläufige Niederlage der Reaktion

Von Anton Latzo

Im Ungarn von heute werden die Ereignisse von 1956 als „Revolution und Freiheitskampf“ gefeiert. Der 23. Oktober, der Tag, an dem 1956 Tausende Budapester auf die Straße gingen, um ihre Unzufriedenheit über die Politik der Regierung zum Ausdruck zu bringen, wurde zum Beginn einer „Revolution“ umfunktioniert und zum Nationalfeiertag erklärt.

Dieselben Kräfte verbieten das Zeigen von Symbolen des Sozialismus und des Kampfes der Arbeiterbewegung und zwingen die Kommunisten, den Begriff „kommunistisch“ aus ihrem Parteinamen zu entfernen. Wenn sie es nicht tun, werde die Partei verboten. Am Werk sind jene politischen Kräfte, die schon damals das Beschreiten des Weges zum Sozialismus verhindern wollten. Sie nutzten die Situation, um eine Konterrevolution anzuzetteln.

Das ist mehr als Übereinstimmung zwischen damals und heute. Es ist eindeutiger Hinweis auf den Charakter und die Autoren der „Freiheitskämpfe“ von 1956 und danach.

Budapest am 2. November 1956: 'Widerstandskämpfer' per LKW auf Nacht-Patrouille

Budapest am 2. November 1956: ‚Widerstandskämpfer‘ per LKW auf Nacht-Patrouille

( Bilsen, Joop van/Anefo/Nationaal Archief, Den Haag, nummertoegang 2.24.01.04, bestanddeelnummer 908–1191/wikimedia.org/CC BY-SA 3.0 NL)

Acht Jahre zuvor, im Jahre 1948 hatte sich Ungarn, wie die anderen Volksdemokratien, für den Weg zum Sozialismus entschieden. Eine Mehrheit der Bevölkerung wollte eine Welt ohne Kapitalisten, ohne Gutsherren, die den Arbeitern und allen Werktätigen die Schaffung eines neuen Lebens für die gesamte Bevölkerung ermöglichen sollte. Erfolge gab es im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, in der sozialen Absicherung der Menschen und in vielen anderen Bereichen.

Man war dabei, die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine neue, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Ungarn war noch immer ein Land mit beträchtlichen Unterschieden in der Wirtschaft und in den materiellen Lebensbedingungen im Vergleich zu westeuropäischen Staaten. Aber diese Unterschiede bestanden nicht erst seit 1945. Sie waren das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Geschichte – unter anderem im Bestand der Habsburg-Monarchie. Hinzu kam, dass nach einigen Jahren dynamischer Entwicklung schwere Fehler der Führungsgruppe um Mátyás Rákosi in der Politik der Partei zu Verzerrungen führten. Im Ergebnis des revisionistischen Verrats der Gruppe um Imre Nagy sowie der subversiven Handlungen innerer und äußerer antisozialistischer Kräfte war die Volksmacht 1956 in großer Gefahr. Die Konterrevolution suchte den offenen Kampf.

Die ungarischen Kommunisten respektieren die wesentlichen politischen Schlussfolgerungen, die die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) unter János Kádár aus den damaligen Vorgängen gezogen hat. Darauf aufbauend kamen sie zu wichtigen Einsichten, die auch ihr aktuelles ideologisches und politisches Konzept beeinflussen.

Eine erste Ursache für die Ereignisse von 1956 bestand demnach in den Fehlern der Partei der Ungarischen Werktätigen, die zwischen 1948 und 1956 unter Führung ihres Generalsekretärs Rákosi die politische Macht ausübte. Dazu zählt die Verletzung elementarer Normen der Demokratie und die unzulässige Einschränkung grundlegender Menschenrechte. Ein weiterer Faktor bestand in der Verletzung des Gesetzes der planmäßig proportionalen Entwicklung. Ein zu großer Teil des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums wurde z. B. für die Rüstung eingesetzt. Der Lebensstandard wurde künstlich auf einem niedrigen Niveau gehalten. Die nationalen Besonderheiten Ungarns wurden vernachlässigt.

Solche Fehler sind aber nicht dem sozialistischen System immanent. Sie resultieren sowohl aus den konkreten inneren und äußeren Bedingungen jener schwierigen historischen Etappe als auch aus dem subjektiven Fehlverhalten der damals verantwortlichen Führungskräfte, das sich auch in Entscheidungen der Partei widergespiegelt hat. Sie ergeben sich nicht aus dem Wesen des Sozialismus, sondern aus der Verletzung der Erfordernisse, die sich aus diesem Wesen ergeben.

Eine zweite Gruppe von Ursachen liegt in der Tätigkeit jener Kräfte in der Führung der Partei und des Staates sowie in den Reihen der Intellektuellen, die von einer „Reformierung des Sozialismus“ sprachen, in Wirklichkeit damit aber bewusst oder unbewusst den Rahmen der sozialistischen Gesellschaft sprengten (sprengen wollten). Die Tätigkeit der Gruppe um Imre Nagy diente letztlich dem Ziel, den Sozialismus zu beseitigen und den Kapitalismus wiederherzustellen.

Die dritte Gruppe von Ursachen ist in der Tätigkeit der inneren antisozialistischen konterrevolutionären Kräfte zu suchen. Diese waren 1948 und danach nicht verschwunden. Nach 1945 wurden durch die Machtergreifung die politischen Institutionen entsprechend um- bzw. neu gestaltet. Die Produktionsmittel wurden den Kapitalisten entrissen. Die materiellen, politischen und rechtlichen Grundlagen der Existenz der Klasse der Kapitalisten und des kapitalistischen Systems wurden beseitigt. Die Vertreter der davor herrschenden Klassen hatten ihre Positionen verloren. Aber ein Teil blieb in Ungarn und wurde zum aktiven Element der Konterrevolution.

Und schließlich wurde die Existenz und das antisozialistische Wirken des internationalen Kapitals zu einem wichtigen Faktor, der die Konterrevolution materiell, politisch, ideologisch sowie militärisch aktiv förderte und betrieb. Man konnte sich nicht damit abfinden, dass man keinen direkten Zugriff auf die verlorenen Quellen für Profit und Herrschaft hatte. Die herrschenden Kreise der Westmächte verstärkten ihre Diversionstätigkeit gegen die sich entwickelnden sozialistischen Länder. Eine besonders aktive Rolle hat dabei de BRD als Verbündeter der USA übernommen, die das Verbot der KPD im Inneren mit dem Kampf gegen die sozialistischen Länder nach außen verband, um die offen verkündeten und verfolgten Ziele der Revision der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu erreichen.

Der Sozialismus in Ungarn hatte zwei verbündete Feinde: die innere Konterrevolution und die internationale Reaktion. Eine Hauptrolle spielten dabei die USA. Der US-Außenminister John Foster Dulles forderte am 27. Oktober offen die Beseitigung der ungarischen Regierung. Am 2. November 1956 erklärte sich die US-Regierung bereit, der Konterrevolution eine Anleihe von 20 Millionen Dollar zu gewähren. Der unter der Kontrolle der USA arbeitende Sender „Radio Free Europe“ stellte während der ganzen Zeit praktisch den Stab zur Koordinierung der Aktionen der Konterrevolutionäre dar. Am 31. Oktober 1956 sendete er den provokatorischen Aufruf: „Mögen die Ungarn den Warschauer Vertrag liquidieren und erklären, dass Ungarn nicht mehr Teilnehmer dieses Vertrages ist“. Imre Nagy verkündete am 1. November die „Neutralität“ Ungarns und am 4. November, nachdem er rechtswidrig den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Vertrag verkündet hatte, rief er die imperialistischen Mächte auf, der Konterrevolution militärische Hilfe zu leisten. Damit war die Verfassung Ungarns und die Sicherheit aller sozialistischen Länder, einschließlich der Sowjetunion, unmittelbar bedroht. Die gesamte Friedensstruktur, die auf der Grundlage der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges errichtet wurde, war in akuter Gefahr.

Die am 3. November gebildete Revolutionäre Arbeiter-und-Bauern-Regierung unter Führung János Kádár wandte sich am 4. November 1956 an das Kommando der sowjetischen Streitkräfte in Ungarn und bat, bei der Zerschlagung der Kräfte der Konterrevolution und bei der Sicherung von Ruhe und Ordnung zu helfen. Kádár formulierte auf dem VII. Parteitag der USAP im November 1959: „Dank dieser Hilfe ist es gelungen, die Versuche des Imperialismus zu vereiteln, dem ungarischen Volk wieder Kapitalismus und Faschismus aufzuzwingen und unsere Heimat zu ihrem militärischen Brückenkopf und einem Schauplatz von Kampfhandlungen zu machen“.

Für die heute im ungarischen Parlament agierenden Parteien sind die Ereignisse von 1956 ein Symbol. 1989/1990 und danach verwirklichten diese Parteien die gleichen Ziele wie die Konterrevolutionäre im Jahre 1956. Die FIDESZ-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orban, das Ungarische Demokratische Forum und die nationalistischen Kräfte sympathisieren mit den offen antikommunistischen Elementen von 1956. Die Ungarische Sozialistische Partei, die von 1994 bis 1998 und von 2002 bis 2010 die Regierung führte, sieht in Imre Nagy ihren politischen Vorgänger. Ihr politisches Konzept für die Gegenwart wird von einem Gemisch aus Neoliberalismus und Sozialdemokratismus charakterisiert.

Die Spaltung in der ungarischen Gesellschaft wird immer tiefer. Das politische Leben wird vom Kampf der beiden großen politischen Lager, der Sozialdemokraten und der Konservativen um die Führung der Regierung bestimmt. In der Gesellschaft vertiefen sich aber die sozialen und anderen Widersprüche des Kapitalismus.

CDU Plakat zu Bundestagswahlen 1957

CDU Plakat zu Bundestagswahlen 1957

Gleichzeitig nimmt auf der Grundlage der Pflege des Antikommunismus durch die bestimmenden politischen Kräfte, wozu auch die Glorifizierung der Konterrevolution von 1956 gehört, die politische Desorientierung zu. Ein fruchtbarer Boden für das Gedeihen von Nationalismus! Auf dieser Grundlage sichert sich die Regierung Orbán eine Mehrheit aus den Reihen der Rechten und des Zentrums mit eindeutig nationalistischer und antikommunistischer Tendenz.

Ihr Ideal ist ein Ungarn wie vor dem zweiten Weltkrieg. Im November 2012 hat das Budapester Parlament eine „Gleichstellung von faschistischer und kommunistischer Diktaturen“ beschlossen. Während es die kurzzeitige Gewaltherrschaft von Ferenc Szálasi (Oktober 1944 bis April 1945) als faschistisch bezeichnete, ist die Zeit der Schreckensherrschaft des Horthy-Regimes, das sich als Ableger des deutschen Faschismus verstand und von 1919 bis 1944 dauerte, bezeichnenderweise davon ausgenommen worden

Deshalb ist eine klassenmäßige Positionierung zu den Ereignissen von 1956 von großer politischer Bedeutung für das richtige Verständnis der Gegenwart. Ein solches Herangehen ist Voraussetzung, um zu erkennen, dass der gesellschaftliche Fortschritt nicht von den Vorstellungen abhängt, die wir uns von ihm machen. Er folgt Gesetzen, die wir erkennen müssen und erkennen können. Die Lehren der Kämpfe von 1956 sind dabei eine wichtige Seite im großen Lehrbuch der Geschichte.

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"Vorläufige Niederlage der Reaktion", UZ vom 21. Oktober 2016



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