Für den Krieg gegen Russland brauchen NATO, EU und Deutschland unsere Bahn und unser Schienennetz. Von Luca Jendrosch

Vorfahrt für die Bundeswehr?

Luca Jendrosch

Deutschland wird gemeinhin als Drehkreuz für die NATO bezeichnet, über das militärische Güter an die „Ostflanke der Allianz“ verlegt werden sollen. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), eine regierungsnahe Denkfabrik, veröffentlichte im Sommer 2024 einen „Policy Brief“ unter der Überschrift „Militärische Mobilität – Wie Deutschland seine Verkehrsinfrastruktur für die Zukunft rüstet“. Auch von dieser Seite wird festgestellt, dass sich die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland in einem maroden Zustand befindet. Das ist für Militärtransporte nicht unwichtig, denn deren Strecken müssen für Schwerlasttransporte und Lademaßüberschreitungen geeignet sein.

Das ist derzeitig weder auf der Straße noch auf der Schiene gewährleistet. Gefordert wird daher von der neuen Bundesregierung ein Sondervermögen von 30 Milliarden Euro, um die militärischen Korridore gezielt zu erneuern. Doch die derzeitigen Maßnahmen sind nur der Gipfel des Eisbergs. Es besteht ein Konstrukt von Gesetzen, Verordnungen und Planungen, die den Aufmarsch gen Osten im Fokus haben. Die nachfolgenden Betrachtungen konzentrieren sich allein auf den Schienenverkehr.

Gesetze, Verordnung und ­Verträge

Seit der Eskalation des Krieges in der Ukraine im Frühjahr 2022 und der damit einhergehenden „Zeitenwende“ wird ganz offen über eine strategische Neuausrichtung der Bundeswehr, ihre Rolle in der NATO und die geostrategische Bedeutung Deutschlands gesprochen. Im Fokus stehen die Finanzierung und der Ausbau der Bundeswehr und die Wiedereinführung der Wehrpflicht, aber auch der Ausbau der Infrastruktur und die Weiterentwicklung von länderübergreifender Logistik. Auch wenn die Militarisierung Deutschlands jetzt forciert wird, bestehen die Grundlagen bereits seit Jahrzehnten.

Eine Grundlage ist das „Verkehrssicherstellungsgesetz“ (VerkSiG) von 1965. Darin wird die Leistungspflicht der Eisenbahn festgehalten, das heißt, die Deutsche Bahn wird verpflichtet, eine bestimmte Verkehrsleistung für die Streitkräfte sicherzustellen. Laut dem VerkSiG sind dafür entsprechende Verordnungen zu erlassen. Dazu zählt die „Verordnung über Verkehrsleistungen der Eisenbahnen für die Streitkräfte“ (StrKrVerkLeistV) von 1976. In dieser Verordnung wird das Verhältnis von Eisenbahn und Streitkräften beschrieben und festgelegt, zu welchen Maßnahmen und Leistungen die Bahn auf Anforderung der Streitkräfte verpflichtet ist.

Wichtiger Bestandteil ist auch die Frage nach der Priorität in der Disposition von Zügen. Der Bundeswehr wird ein Vorrang gegenüber anderen Verkehrsleistungen wie zum Beispiel der Beförderung von Personen gegeben. Wörtlich heißt es in der Verordnung: „Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und das Bundesministerium der Verteidigung vereinbaren, unter welchen Voraussetzungen die Streitkräfte die Einräumung des Vorrangs fordern und auf welche betrieblichen Maßnahmen sich die Forderungen erstrecken können.“ Um diesen Vorrang zu vereinbaren, wurde zuletzt im Jahr 2018/2019 der „Rahmenfrachtvertrag“ zwischen Bundeswehr und DB geschlossen.

Diese sogenannte „Express-Option“ kann laut Vertrag nur angewendet werden, wenn VJTF-Kräfte unter deutscher Führung stehen. VJTF steht für „Very High Readiness Joint Task Force“. Es handelt sich um in kürzester Zeit einsetzbare Krisenreaktionskräfte der NATO – auch bekannt als Speerspitze der NATO. Die „Express-Option“ soll sicherstellen, dass die Bundeswehr ihre Pflichten in der NATO erfüllen kann, entsprechende Kräfte und Material innerhalb kürzester Zeit zum Einsatzort zu verlegen. Der Rahmenfrachtvertrag hebt also nicht die Dispositionsregeln der DB auf, sondern die Bundeswehr kauft sich entsprechende „Express-Optionen“ ein. Hierbei handelt es sich dann um Schienengüterverkehr mit sehr hoher Priorität. Diese Prioritäten gibt es nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für andere Verkehre wie den Schienen-Personenfernverkehr.

Ein weiterer Bestandteil des Vertrages ist die Reservierung von zwei grenzüberschreitenden Trassen pro Tag und Richtung. Die Trasse ist dabei nicht die bauliche Einrichtung, sondern der Zeit-Weg-Abschnitt einer Eisenbahn auf einem definierten Laufweg. Diese Trassen müssen durch alle Eisenbahnverkehrsunternehmen beim Betreiber der Infrastruktur angemeldet und bezahlt werden. Außerdem enthält der Vertrag die Pflicht zum Vorhalten von 300 geeigneten Wagen, die zusätzlich zu den 280 Flachwagen der Bundeswehr benötigt werden. Der Gesamte Rahmenfrachtvertrag kostete die Bundeswehr circa 100 Millionen Euro in den Jahren 2019 und 2020. Der Vertrag wurde bis Ende 2024 verlängert. Über eine weitere Verlängerung ist derzeit nichts bekannt.

Leistungsfähige Infrastruktur für den Krieg?

Nach jahrzehntelangem Investitionsstau, der der Eisenbahninfrastruktur geschadet hat, wird nun versucht, die Leistungsfähigkeit des deutschen Schienennetzes mit zivilen und militärischen Projekten wieder zu stärken. Natürlich ist es sehr zu befürworten und auch notwendig, dass das Schienennetz instandgesetzt und ausgebaut wird, dass die Stellwerkstechnik modernisiert wird, dass Fachkräfte im operativen Eisenbahnbetrieb und im Bau sowie der Instandhaltung aufgebaut werden. Milliarden in die Schieneninfrastruktur sind etwas Gutes, um die Mobilitätsbedürfnisse sicherzustellen. Gewerkschaften, Umweltverbände und fortschrittliche Kräfte fordern das seit Langem.

Bis 2030 sollen nun 40 Streckenabschnitte generalsaniert werden. Dabei geht es auch um bestimmte Korridore, die besonders leistungsfähig sein sollen. Allerdings geht es hier nicht allein um zivile Zielstellungen, besseren Personennah- und Fernverkehr und die Frage, wie mehr Verkehr zum Schutz der Umwelt auf die Schiene verlagert werden kann. Es geht auch darum, die „Kriegsfähigkeit“ Deutschlands gen Osten herzustellen. Das unterstreicht der „Operationsplan Deutschland“ aus dem Frühjahr 2024. Wie Veröffentlichungen der Bundesregierung und der Bundeswehr zu entnehmen ist, dient er als umfassender Plan der Zusammenarbeit der Bundeswehr mit zivilen Behörden und internationalen Partnern, mit denen auf verschiedene „Bedrohungsszenarien“ reagiert werden soll.

Auch wenn bei den Infrastrukturprojekten der zivile Nutzen von der Bundesregierung und der Deutschen Bahn in den Vordergrund gestellt wird, lassen die Pläne erkennen, dass es auch um eine Anbindung Osteuropas an die NATO geht. Es geht darum, das Baltikum in die NATO-Logistik einzubinden und schnell in der Lage zu sein, an den Grenzen zu Russland Krieg zu führen. Die Schieneninfrastruktur ist entscheidend für den massenhaften und schnellen Transport von Truppen und Material. In den Veröffentlichungen wird nicht konkret auf bestimmte Korridore eingegangen. Dennoch lässt sich erkennen, dass es im Wesentlichen um Nord-Süd-Verbindungen geht, die die Häfen im Norden mit dem süddeutschen Raum für die Versorgung und den Nachschub verbinden. Hinzu kommen Ost-West-Verbindungen für den Transport gen Osten.

Ein wichtiges Projekt, mit dem die Deutsche Bahn auch im zivilen Bereich wirbt, ist die „Rail Baltica“. Dazu schreibt der Konzern: „Über eine 870 km lange, zweigleisige Hochgeschwindigkeitsstrecke in 1.435 mm Spurweite sollen Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen mit dem mitteleuropäischen Bahnnetz verbunden werden. Ziel ist es, den Personen- und Güterverkehr zwischen den beteiligten Ländern sowie Mittel- und Nordeuropa auszubauen und so die Entwicklung des Wirtschaftskorridors in Nordosteuropa anzukurbeln.“ Dieses Projekt hat eine enorme militärische Relevanz, weil es dafür sorgt, dass die hierzulande gängige Spurweite 1435 die russische Breitspur im Baltikum ersetzt. Der schnelle Transport von Kriegsmaterial an die russische Grenze wird so vereinfacht, weil der zeitaufwendige Spurweitenwechsel entfällt. Bereits 2016 wurde über eine Anbindung der Ukraine spekuliert. Das lettische Verteidigungsministerium setzt sich außerdem für den Anschluss von Militärstützpunkten an das „Rail Baltica“-Netz ein.

Military Mobility und die Europäische Union

Neben der rein technischen und betrieblichen Leistungsfähigkeit des Schienennetzes gen Osten haben die Streitkräfte derzeit noch andere Probleme. Militärtransporte bringen eine Menge bürokratischen Aufwand mit sich. So beklagte sich der deutsche Admiral Manfred Nielsen in einem Interview vor einigen Jahren: „Neben den Problemen mit der Infrastruktur seien auch die Regelungen und Absprachen nach wie vor überarbeitungsbedürftig. Schon ein Transport schweren militärischen Geräts von Nord- nach Süddeutschland innerhalb von 30 Tagen gelte als schnell, weil jedes betroffene Bundesland die Transporte genehmigen müsse. Auch die Bahn sei nicht auf schnelle Verlegungen eingestellt: Wenn wir mit nur fünf Tagen Vorwarnzeit Panzer und Fahrzeuge innerhalb Deutschlands transportieren wollen, kann die Bahn dies derzeit nicht leisten. Die Bahn braucht dafür im Regelfall 36 Tage Vorlaufzeit.“

Mit der EU-Verteidigungsinitiative PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), die 2017 ins Leben gerufen wurde, soll grenzüberschreitenden Problemen begegnet werden. Laut dem Verteidigungsministerium laufen derzeit etwa 60 militärische Projekte innerhalb von PESCO. Dazu gehört auch das Projekt „Military Mobility“, das Verfahren und Prozesse im Verkehrssektor vereinfachen soll. Unter Führung der Niederlande wird zum Beispiel anhand eines Musterkorridors, der sich von den Niederlanden über Deutschland nach Polen bis zur Ostflanke zieht, versucht, Prozesse zu beschleunigen. Darunter fallen Genehmigungsverfahren für die Einreise, die Kennzeichnung von Konvois und die Versorgung und Stationierung von Truppen während des Transports. Das Ziel ist ein sogenanntes „Militärisches Schengen“, das eine fast hindernisfreie Bewegung von Militärtransporten durch Europa ermöglichen soll.

Auch wenn die EU zum Beispiel über PESCO versucht, eigenständig kriegstüchtig zu werden, so spielt die gesamte europäische Kriegslogistik eine entscheidende Rolle für die NATO. Das erklärt, warum die NATO-Staaten USA und Kanada an „Military Mobility“ beteiligt sind. Deutschland ist mit „Network of LogHubs“ zudem federführend an einem weiteren Projekt beteiligt. In diesem sollen Logistische Zentren in Europa aufgebaut werden, die den Transport von Material und die Versorgung von Streitkräfte sicherstellen.

Widerstandsfähigkeit ­entwickeln statt Kriegsfähigkeit

NATO, EU und Deutschland wollen in der Lage sein, Krieg gegen Russland zu führen. Dafür brauchen sie die Eisenbahn, vor allem das deutsche Eisenbahnnetz als logistisches Zentrum und Drehscheibe. Die „Zeitenwende“ bietet jetzt die Möglichkeit, die Militarisierung der Gesellschaft und die Kriegslogistik ganz offen auszubauen. Die Annahme, dies geschehe im Geheimen, ist falsch. Allerdings regt sich bisher kein Widerstand, weil die bürgerliche Propaganda es geschafft hat, einen Großteil der Gesellschaft hinter den Kriegskurs der Bundesregierung zu stellen. Milliarden in die Schieneninfrastruktur werden auch wegen der NATO-Kriegsziele freigegeben. Die Bevölkerung und die Bahnbeschäftigten profitieren davon – aber der Preis ist hoch.

Es geht jetzt darum, die Diskussion in der Bevölkerung und innerhalb der Eisenbahn zu führen, wie Widerstand gegen die Kriegstüchtigkeit entwickelt werden kann. Im Februar weigerten sich Münchner Tram-Fahrer, Bahnen mit Bundeswehr-Werbung zu fahren. Das scheint trivial, aber bereits solcher Widerstand lässt die Heimatfront bröckeln. Und nichts gefährdet den Kriegskurs so stark wie Widerstand im eigenen Land.

Unser Autor ist Beschäftigter bei der Deutschen Bahn

Historische Kontinuität
Die Bedeutung der deutschen Bahnen für die Militärlogistik war schon von Beginn an im preußischen Feudalstaat und im späteren Deutschen Kaiserreich gegeben. Sehr früh erkannten die Militärs die strategische Rolle der Eisenahnen für die Truppenbewegungen. Der preußische Staat war daher auch einer der ersten, der die Eisenbahnen in seine Planungen einbezog, das Schienennetz entsprechend ausbaute und für seine Mobilmachungen nutzte. Die Verstaatlichung der Bahnen war die logische Konsequenz, da nur der Staat die riesigen Investitionen gewährleisten konnte. Das setzte sich im Kaiserreich fort. Die Deutsche Reichsbahn war im Ersten und auch im Zweiten Weltkrieg ein zentrales logistisches Element für die Material- und Truppentransporte. Nicht zu vergessen die Einbindung der Deutschen Reichsbahn in die Massentransporte von Juden in die Vernichtungslager. Die Vernichtungslager wurden nicht zuletzt auch für die Rüstungsproduktion genutzt und die Rüstungsgüter wiederum von der Reichsbahn transportiert. Diese historische Kontinuität setzte sich im Kalten Krieg gegen die sozialistischen Staaten bis 1990 fort. Auch die Deutsche Bundesbahn war einbezogen und ein wichtiger Partner für die NATO. Die Konstruktion der Einbindung aus dieser Zeit bildet die Grundlage für die derzeitigen Maßnahmen, die Deutsch Bahn zu militarisieren.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Vorfahrt für die Bundeswehr?", UZ vom 7. März 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit