Der deutsche Kapitalismus in den Umbrüchen der Weltwirtschaft

Vor turbulenten Zeiten

Peter Wahl

Einleitung

Die aktuelle Ausgabe von „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“ beschäftigt sich mit der Krise des imperialistischen Systems, die seit 2008 schwelt. Unter der Überschrift „Transformationskrise“ widmet sich das Heft den unterschiedlichen Erscheinungen dieser Krise und ihrer Wechselverhältnisse. Wir drucken hier den Beitrag von Peter Wahl ab, der sich mit den strategischen Herausforderungen für Kapital und Arbeit beschäftigt, die unter dem Stichwort „Klimawandel“ zusammengefasst werden. Wir danken Autor und Redaktion der „Z.“ für die Genehmigung zur Nutzung des Beitrags.

Einer internationalen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts IFOP zufolge glauben 52 Prozent der französischen Bevölkerung, dass „die Zivilisation, wie wir sie kennen“, in den nächsten Jahren zusammenbricht. In Italien sind es sogar 71 Prozent. In Deutschland dagegen signifikant weniger, nämlich nur 39 Prozenti. Nun sind solche Umfragen natürlich keine wissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen, sondern reflektieren Stimmungen einer Öffentlichkeit, die ihre Weltsicht wiederum aus Medien, Politik und andern Quellen bezieht, die ihrerseits von den diskursiven Kräfteverhältnissen in einer Gesellschaft geprägt sind. Dennoch sind die Zahlen insofern aufschlussreich, als sie die Wahrnehmung der Deutschen widerspiegeln, in vergleichsweise sicheren und stabilen Verhältnissen zu leben. Aber es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich das auch hierzulande ändern könnte.

Mehr als eine zyklische Krise

Denn seit gut einem Jahrzehnt erleben die kapitalistischen Zentren eine Zusammenballung von ökonomischen, politischen und ökologischen Krisen, wie sie zuvor nur Regionen des globalen Südens heimgesucht hatten. Angefangen hatte es mit dem Finanzcrash 2008. Dann die Eurokrise mit der spektakulären Niederwerfung Griechenlands und ab 2015 das Drama um Flucht und Migration. Parallel dazu die Destabilisierung der politischen Systeme, der Aufstieg einer neuen Rechten, der spektakuläre Niedergang der Sozialdemokratie, die Krise vieler konservativer Parteien und eine weitgehend marginalisierte Linke. Keines der Probleme ist wirklich gelöst, sondern schwelt im Untergrund weiter, auch wenn es gegenwärtig keine spektakulären Ausbrüche gibt. Dazu kommt die Transformation des internationalen Systems mit dem Aufstieg Chinas zur Supermacht, dem Comeback Russlands als Großmacht und dem Ende der unipolaren Dominanz der USA mit dem Risiko des Abgleitens in einen Kalten Krieg 2.0.

All das existierte schon vor Corona. Die Pandemie wirkt aber noch als Brandbeschleuniger. Und last but not least schwebt über allem das Damoklesschwert der Klima- und anderer Umweltkatastrophen.

Die aktuellen Krisenzusammenhänge sind deshalb mehr als die traditionellen zyklischen Wirtschaftskrisen des Kapitalismus. Es handelt sich um einen mehrdimensionalen Prozess, dessen einzelne Momente zwar über eine Eigendynamik verfügen, die aber alle mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden sind und dialektisch miteinander wechselwirken. Seit langem wirkende tektonische Verschiebungen wie Umweltzerstörungen und Klimawandel verbinden sich mit den neoliberalen Verwüstungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die wiederum politische Instabilität, Kontrollverluste und Chaos befördern. Die dem globalisierten Kapitalismus inhärenten Destruktivkräfte kehren sich zunehmend gegen ihren Ausgangspunkt und werden zur existenziellen Bedrohung des Systems selbst.

Auch geht diese Krisenkonstellation über einen Wechsel im Akkumulationsregime hinaus, wie wir es aus dem Übergang von der fordistischen zur neoliberalen Ära kennen und wie es gegenwärtig wieder an der Frage diskutiert wird, ob der Neoliberalismus am Ende sei.ii

Denn ein Merkmal unserer historischen Situation besteht in der neuen Qualität des Zeitfaktors und der Tragweite drohender Katastrophen. Zwar gab es auch schon früher menschengemachte Umweltkatastrophen, aber sie waren in ihrer Wirkung regional begrenzt. Das gilt auch für die politischen Desaster im Schlachthaus der Geschichte (Heiner Müller): Kriege, Massaker, Völkermord, Faschismus. Ließ sich nach solchen Niederlagen noch immer sagen: „Die Enkel fechten’s besser aus!“, so gilt das für die physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge in der Biosphäre nicht. Die richten sich nicht nach der Problemlösungsfähigkeit politischer Systeme, der UNO und internationaler Verträge, sondern folgen ihren eigenen, unerbittlichen Gesetzen. Deshalb nähern wir uns den berüchtigten Kipppunkten, an denen die Biosphäre aus dem Gleichgewicht geraten kann. Insofern erscheint es durchaus angemessen, von einer „singulären Zivilisationskrise“ zu sprechen, in die der Kapitalismus den Planeten und seine Bewohner hineingeritten hat.iii

Auch die Herausforderungen, vor denen der deutsche Kapitalismus steht, sind deshalb im Kontext einer politischen Ökonomie einer Zivilisationskrise zu diskutieren. Die BRD ist mit dem Zwang zu Veränderungen konfrontiert, die weit über das hinausgehen dürften, was bisher in der Nachkriegsgeschichte an Umbrüchen zu bewältigen war, wie das Ende des Fordismus in den 1980er Jahren oder die Wiedervereinigung.

Der Kapitalismus möchte grün werden

Auch viele Exponenten des deutschen Kapitalismus in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit scheinen begriffen zu haben, dass sich die herrschende Produktionsweise das eigene Grab schaufelt, wenn es mit business as usual weitergeht. Das sagt noch nichts über praktische Konsequenzen, geschweige denn, dass das System als solches infrage gestellt würde. Denn selbstverständlich geht es dabei primär um seine Rettung, um die Hoffnung auf einen grünen Kapitalismus. Aber nach Jahrzehnten mit bloßer Rhetorik, Ankündigungen, halbherzigen Reformen und vermurkster Energiewende scheint jetzt doch eine neue Dynamik in Gang zu kommen.

Sichtbar wird dies z.B. am Wandel im Verhältnis zwischen Staat und Markt. Der neoliberale Anti-Etatismus ist zwar nicht völlig verschwunden, aber bereits in der Finanzkrise wurde sichtbar: Wenn es kritisch wird, ist der Staat „the only game in town“ (Wolfgang Streeck). Und zwar vorwiegend als Nationalstaat. Und das nicht aus Nationalismus, sondern schlicht und einfach, weil die territorialstaatliche Form der Vergesellschaftung nach wie vor über die meisten politischen, finanziellen, juristischen Ressourcen und das größte Handlungspotenzial verfügt, auch wenn es in vielen Fällen unzulänglich sein mag.

Der Wandel im Staatsverständnis schlägt sich auch im Umgang mit Staatsverschuldung nieder. Der Aufkauf von öffentlichen Schulden durch die Zentralbanken, deren Null- oder Niedrigzinspolitik sowie der erneut sprunghafte Anstieg der Passiva in vielen Ländern hat durch Corona eine weitere Rechtfertigung erhalten. Das wird sich auch nach der Pandemie nicht mehr ändern. Denn auch für die Finanzierung eines ökologischen Umbaus und für Schutz- und Anpassungsmaßnahmen gegenüber dem Anstieg von Temperaturen und Meeresspiegel, gegen Hochwasser, Gletscherschmelze, Wassermangel, Katastrophen- und Gesundheitsschutz, etc. – also all das, was in der Klimapolitik unter Adaptation läuft – ist die öffentliche Hand unabdingbar.

Dekarbonisierung – neuer Treiber weltwirtschaftlicher Umbrüche Deutlich erhöhte Dynamik wird auch in der Klimapolitik sichtbar. Im Zentrum der Umbaupläne steht die Dekarbonisierung, d.h. die Ersetzung der fossilen Energiebasis durch erneuerbare Energien. Der jüngste Vorschlag der EU-Kommission „Fit for 55“ sieht vor, den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Noch handelt es sich um Vorschläge, die in der Brüsseler Abstimmungsmühle wieder mehr oder minder stark verwässert werden. Dennoch wird der Druck deutlich erhöht.

Gleichzeitig wird staatliche Industriepolitik wiederentdeckt, nachdem sie jahrzehntelang als Tabu galt. Es öffnen sich die Schleusen für staatliche Subventionen, als ob es nie eine „Schwarze Null“ gegeben hätte. Von Kaufprämien für E-Autos – allein im ersten Halbjahr 2021 erhielten Käufer von als umweltfreundlich deklarierten Autos 1,25 Milliarden Euroiv – bis zum European Green Deal, der bis 2027 insgesamt 1,8 Billionen Euro für die Energiewende vorsieht. Insbesondere die Lobby der energieintensiven Branchen (Stahl, Zement) fordert zusätzliche Unterstützung, sei es in Form von direkten Subventionen, steuerlichen Entlastungen oder protektionistische Maßnahmen, wie etwa eine CO2-Ausgleichssteuer an den EU-Zollgrenzen.

Dazu werden neue Anlagestrategien für Finanzmärkte mit Förderung der Zentralbanken (darunter die EZB) entwickelt. Eine neue Risikoklasse ist entstanden, die sog. Stranded assets, also Wertpapiere von Unternehmen mit fossilen Geschäftsmodellen, denen eine Entwertung in dreistelliger Billionenhöhe drohen könnte. Große Öl- und Gaskonzerne – von BP über Shell bis Gazpromv – steigen in das Geschäft mit den Erneuerbaren ein. China hat für sich CO2-Neutralität bis spätestens 2060 angekündigt. Die USA sind ins Pariser Abkommen zurückgekehrt und werden sich nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen zu China gezwungen sehen, sich am Rennen um den profitabelsten Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter zu beteiligen.

Hier wird die Ambivalenz des Konkurrenzprinzips deutlich. Zum einen führt es zu einer Vergeudung von Ressourcen und Effizienzverlusten, weil eine gesamtgesellschaftliche Rationalität fehlt und Potenziale nicht gebündelt und rationell genutzt werden, sondern gegeneinander rivalisieren. Im internationalen Zusammenhang führt das zu Standortrivalität und ggf. sogar zu geopolitischer Feindschaft. Auf der anderen Seite erzeugt ein einmal erfolgreiches Geschäftsmodell eine enorme Sogwirkung und übt Nachahmungsdruck auf die Konkurrenten aus.

Letztlich liegt der neuen Dynamik die Tatsache zugrunde, dass sich mit der Dekarbonisierung schon jetzt in einigen Branchen Profit erzielen lässt. Und dort, wo dies noch nicht der Fall ist, soll der Staat dafür sorgen, dass es perspektivisch möglich wird. Typisch dafür z.B. die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm, die in der Wertschöpfungskette für Wasserstoff auch für die deutsche Industrie Chancen sieht „vor allem dort, wo zukünftig Schlüsselkomponenten produziert werden – beginnend mit dem Bau von Elektrolyseanlagen. Hier sind deutsche Unternehmen gut aufgestellt.“vi Das energetische Potenzial von Wasserstoff, bei dessen Verbrennung keine Treibhausgase entstehen, wird vor allem im Schwerlastverkehr, bei Bussen, in der Schifffahrt, dem Luftverkehr und in energieintensiven Branchen wie der Stahl- und Zementindustrie gesehen. Der „European Green Deal“ der EU sieht vor, bis 2050 eine Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen. Bis 2024 soll zunächst eine Million Tonnen produziert werden, bis 2030 soll mit der zehnfachen Menge der Hochlauf zur Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden. Für den Bau der Elektrolyseanlagen wird dazu mit Investitionen in Höhe von 24 bis 42 Milliarden Euro gerechnet.vii

Ob die Pläne so aufgehen werden, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Allerdings sei daran erinnert, dass solch große Umbauprojekte der Energiebasis in der Vergangenheit durchaus funktioniert haben, wie man an Frankreich sehen kann. Allein zwischen 1980 und 1986 gingen dort 37 (in Worten: siebenunddreißig) AKWs ans Netz.viii

Wir beschreiben hier die real existierende Entwicklung, die aus ökologischer oder gar öko-sozialistischer Perspektive natürlich höchst kritikwürdig ist. Zum einen aus prinzipiellen Gründen, weil sie nach wie vor privaten Profitinteressen Priorität einräumt, zum anderen, weil Wirksamkeit und Erfolg alles andere als sicher sind. Es ist abzusehen, dass der Weg zur Dekarbonisierung mit vielen Widersprüchen, Irrwegen und Fehlschlägen gepflastert ist. Aber es ist nicht mehr zu bezweifeln, dass er jetzt irreversibel eingeschlagen wird.

Beispiel E-Auto

Deutschland ist nach China und den USA der weltweit drittgrößte PKW-Hersteller. Die Autoindustrie ist der größte Industriezweig. Zusammen mit der Zuliefererindustrie erwirtschaftet sie mit ca. 830.000 Beschäftigten (2019) ca. zehn Prozent des deutschen BIPs. Die Exportquote beträgt 74,7 Prozent.ix Mit anderen Worten: Die Branche ist eine der tragenden Säulen des deutschen Kapitalismus. Dementsprechend groß ist die Herausforderung durch die Dekarbonisierung, in diesem Fall die Ersetzung des Verbrennungsmotors durch elektrischen Antrieb und z.T. auch durch Wasserstoff (Schwerlastverkehr, Busse). Da China und die USA (Tesla) hier bisher Vorreiter sind, will die EU jetzt aufholen. Galt bisher ein Reduktionsziel von 37 Prozent für die Neuwagenflotte bis 2030, so sollen es jetzt 55 Prozent werden. Ab 2035 sollen nur noch Fahrzeuge mit Null Emissionen auf den Markt kommen.

Die führenden Konzerne sind zwar mit etwas Verspätung, aber jetzt doch massiv dabei zu reagieren. Grundlegend geändert wird dabei allerdings nur die Antriebsart der Autos. Am System des Individualverkehrs ändert sich nichts, auch nicht bei den Typen. Geländewagen und SUVs wird es weiterhin geben, nur eben mit elektrischem Antrieb. Selbst Porsche bietet mit seinem Taycan ein voll elektrisches Geschoss an, mit dessen 680 PS man „in knapp unter drei Sekunden auf Tempo 100 katapultiert wird“, so die Reklamesprüche. Wer die Spitzenausstattung von 183.000 Euro kauft, bekommt das mit 13.151 Euro subventioniert und kann dann mit 260 km/h nachhaltig durch die Gegend brettern.

Volkswagen plant, mit Investitionen von bis zu 35 Milliarden Euro seine Position als weltweit größter Autokonzern zu verteidigen und will zum globalen Anführer für E-Mobilität zu werden: „Die Batteriezelle rückt bei VW ins Zentrum von Entwicklung und Produktion, sie wird das, was bisher der Verbrennungsmotor war“, kündigte Konzernchef Diess an.x Auch Opel (in französischer Hand) will ab 2028 keine Benziner mehr vom Band rollen lassen.

Daimler hat beschlossen, in den kommenden zehn Jahren 40 Milliarden Euro in E-Autos zu investieren. Parallel dazu sollen die Ausgaben für die Verbrenner bis 2026 um 80 Prozent reduziert werden. Vorstandschef Källenius erklärte, von „Electric first“ würde jetzt auf „Electric only“ umgeschaltet. Denn „die ganze Welt ist aufgewacht. Wir müssen alle unser Verhalten ändern in Richtung einer CO2-neutralen Welt.“xi Teil des Investitionspakets ist auch der Bau von acht Batteriefabriken mit Kapazitäten von zusammen mehr als 200 Gigawattstunden, darunter vier in Europa, drei in Asien und eine in den USA.

Nicht ganz so stürmisch will BMW vorgehen, aber immerhin soll ab 2025 der Absatz von E-Autos um jährlich 50 Prozent gesteigert werden. Außerdem will man das „grünste Auto der Welt“ bauen.xii Gemeint ist damit eine hohe Recyclingquote für möglichst alle Komponenten und eine Rücknahmegarantie. Auch beteiligt sich BMW am Ausbau der Ladeinfrastruktur, die bisher eine Achillesferse des E-Autos ist.

Daher macht die Autolobby enormen Druck auf die Politik, die Infrastruktur mit Ladestationen im Höchsttempo auszubauen und dafür zu sorgen, dass der steigende Strombedarf für all die neuen E-Autos gedeckt werden kann. Wie bei allen technologischen Durchbrüchen ist der Markt allein nicht in der Lage, die Transformation zu organisieren. Der deutsche Kapitalismus auf dem Weg in einen STAMOKAP 2.0.?xiii

Klar ist auch, dass der Umbau nicht ohne Verwerfungen beim Faktor Arbeit vonstattengehen wird. Eine Gemeinschaftsstudie von Uni Saarbrücken, TH Aachen, Roland Berger u.a. für das Bundeswirtschaftsministerium prognostiziert, dass bis 2040 in der Herstellung, im Handel und anderen daran hängenden Bereichen (Werkstätten, Tankstellen etc.) bis zu 300.000 Stellen gefährdet sind.xiv Das entspricht fast einem Drittel der Beschäftigten. Jens Südekum, Co-Vorsitzender des Expertenbeirats der Bundesregierung im sog. Zukunftsfonds, rechnet daher mit „heftigen Disruptionen“. Zwar entstünden auch „genauso viele neue Jobs“, allerdings in anderen Tätigkeiten und Standorten. So seien vor allem IT-Experten, Elektrochemiker u.ä. Fachleute gefragt, die heute schon knapp sind.xv

Es muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, dass hier enorme Herausforderungen für die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke liegen.

Umbau der Lieferketten

Ein gravierendes Problem der Dekarbonisierung sind Veränderungen im Rohstoffbedarf. In dem Maße, wie fossile Brennstoffe an Bedeutung verlieren, wächst der Bedarf an Rohstoffen, die für die neuen Technologien gebraucht werden. Für eine Batterie neuerer Bauart mit einer Leistung von 60 kw/h werden 9 kg Kobalt, 11 kg Lithium und 70 kg Nickel benötigt. Die Länder mit der größten Fördermenge bei Kobalt sind die DR Kongo, China, Kanada, Russland, Brasilien. Bei Nickel sind es Indonesien, Philippinen, Russland, Französisch Neu-Kaledonien, Kanada, Australien, China. Und bei Lithium sind die mit Abstand wichtigsten Produzenten derzeit: Australien, Chile, China, Argentinien. Hier wird es Gewinner und Verlierer mit entsprechenden Verschiebungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen geben. Einer Studie des Fraunhofer-Instituts zufolge besteht prinzipiell keine Knappheit bei diesen Rohstoffen, dennoch sei kurz- und mittelfristig mit Lieferengpässen zu rechnen.xvi Für die Autoindustrie heißt das jedoch, dass die Lieferketten umgestellt werden müssen. Das kostet Geld und Zeit.

Etwas anders sieht es bei Wasserstoff aus. Für dessen Produktion kommen perspektivisch alle Standorte infrage, wo viel Wind- und Sonnenenergie u.a. Erneuerbare für die Produktion zur Verfügung stehen. Transportiert werden kann Wasserstoff in großen Mengen und über weite Distanzen durch Pipelines oder per Tanker.

Als Rahmenbedingungen für eine Umstellung der Rohstoffversorgung sind in jedem Fall zwischenstaatliche Abkommen gefragt. Für Lithium ist bereits eines mit Australien in Vorbereitung. Staat und Politik kommen auch ins Spiel, wenn es um die üblichen Konflikte bei Rohstoffen geht: soziale und Arbeitsbedingungen bei der Förderung, Umweltbelastungen vor Ort, Menschenrechtsfragen, politische Instabilität, Korruption etc.

Man kann deshalb davon ausgehen, dass nicht alle Pläne Wirklichkeit werden und sich zahlreiche Hürden und so manche Fehlschläge einstellen werden. Aber für die überschaubare Zukunft scheint sich eine strategische Weichenstellung für den elektrifizierten Individualverkehr durchzusetzen. Alternativen, die das Verkehrssystem als Ganzes auf Nachhaltigkeit umstellen und das Auto als Verkehrsmittel substanziell zurückdrängen wollen, dürften trotz guter Argumentexvii durch den massiven Vorstoß der Autoindustrie in die Defensive geraten.

Die geopolitische Dimension

Dazu kommen die geopolitischen Aspekte, d.h. Konkurrenz um Zugang zu den Rohstoffquellen und das Eingebundensein der Wirtschaft in die globalen Konflikte, hier insbesondere einen Kalten Krieg 2.0 mit China und Russland. Ausgetragen wird er über Sanktionen, Protektionismus – vor allem in den Bereichen, die Technologieführerschaft tangieren – und die Umgruppierung von Lieferketten, um die Verwundbarkeit der eigenen Wirtschaft zu reduzieren. Es entsteht eine Tendenz zur selektiven, sektoralen Deglobalisierung, wie z.B. die US-Sanktionen gegen Huawei und andere Hightechkonzerne Chinas zeigen. Umgekehrt arbeiten China und Russland an einer Abkopplung vom Dollar als Weltwährung und entwickeln Alternativen zu globalen Infrastrukturen bei Kreditkarten und dem elektronischen Informationssystem des internationalen Finanzsektors SWIFT.

Im Unterschied zum historischen Kalten Krieg ist die Weltwirtschaft heute jedoch um Größenordnungen höher integriert, sodass Friktionen zwischen Geopolitik und ökonomischer Verflechtung sofort schärfer hervortreten. Die deutsche Wirtschaft ist davon in besonders hohem Maße betroffen. Das Tauziehen um Nord Stream II ist ein spektakuläres Beispiel dafür. Ökonomisch noch brisanter sind die engen Wirtschaftsbeziehungen zu China. Das Land war 2020 zum fünften Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner, gefolgt mit deutlichem Abstand von den Niederlanden und den USA.xviii Besonders stark ist die Autoindustrie auf dem größten Markt der Welt engagiert. Ein Drittel der Autoexporte geht nach China. Dabei hat sich die rasche Erholung der chinesischen Wirtschaft von Corona geradezu als Rettungsanker für VW-Daimler-BMW & Co. Erwiesen. Es ist eine Abhängigkeit entstanden, die zudem höchst asymmetrisch ist. Joe Kaeser, Ex-Chef von Siemens, brachte es auf den Punkt: „China braucht uns nicht, wir brauchen aber China.“xix Das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Abhängigkeit und geopolitischer Orientierung wird als Dilemma auf absehbare Zeit großen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Kapitalismus ausüben.

Dieser Widerspruch wirkt sich auch europapolitisch aus. So ist das Investitionsabkommen EU-China, das kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft von Merkel noch mit Hochdruck paraphiert worden war, inzwischen auf Eis gelegt. Das Straßburger Parlament, aber auch einige Mitgliedsstaaten blockieren das Projekt. Nord Stream II schließlich hat zu einem offenen Konflikt in der EU geführt, der auch nach der Einigung mit den USA weiter gären dürfte. Vorreiter waren dabei Polen und die baltischen Staaten, denen sich die Kommission, aber auch die Niederlande, Schweden und – eher verstohlen – Frankreich angeschlossen hatten.

Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung, ansonsten bekannt für eifrigen Transatlantismus, weder vor dem Druck Trumps noch Bidens kapituliert hat noch dem Konflikt in der EU aus dem Weg gegangen ist. Der entscheidende Grund dafür dürfte sein, dass der Ausstieg aus den fossilen Energien zu einem Anstieg des Strombedarfs führt, der aber realistischerweise vorerst nicht durch Erneuerbare zu decken ist. Gas ist in dieser Situation dann das kleinere Übel, wenn nicht die Netzstabilität aufs Spiel gesetzt und Blackouts riskiert werden sollen. Energiesicherheit gehört nicht nur hierzulande zum Basisbestand staatlicher Aufgaben. Wer einmal in Ländern war, wo der Strom periodisch abgeschaltet werden muss, oder wer von den Stromausfällen bei der Flutkatastrophen jüngst in der Eifel betroffen war, wird verstehen warum.

Das Dilemma zwischen ökonomischer Abhängigkeit von China und geopolitischem Druck zu antichinesischer Lagerdisziplin des Westens wird die ohnehin schon bestehenden zentrifugalen Tendenzen in der EU verstärken. Für fundamentale Interessen des Standorts Deutschland wird sich ein zu antichinesischer Kurs Brüssels als Klotz am Bein erweisen. Andererseits kann eine zumindest ökonomisch als Großmacht auftretende EU auch für deutsche Interessen instrumentalisiert werden. Auch dieser Widerspruch wird auf absehbare Zeit die deutsche Wirtschaft belasten. Er wird die Position Berlins in der informellen Machthierarchie der EU schwächen – auch in der Rivalität mit Frankreich um die führende Rolle in der EU und die Ausgestaltung von deren Außenpolitik und Außenwirtschaft.

Vor uns die Mühen des Hochgebirges

Wir haben uns in diesem Text auf die Dekarbonisierung als strukturbildenden Vektor in der Weltwirtschaft und dessen Wirkung auf die Automobilindustrie konzentriert sowie geopolitische Effekte auf die Wirtschaft gestreift. Natürlich gibt es weitere Faktoren, die großen Einfluss auf die Zukunft des deutschen Kapitalismus haben werden, an erster Stelle die Digitalisierung. Dazu gibt es eine breite Diskussion, die wir hier nicht weiter verfolgen. Sie ist unabhängig von den eingangs skizzierten Krisenzusammenhängen entstanden, quasi ein „normaler“ Umbruch in der Produktivkraftentwicklung. Dennoch wird auch das enorme Strukturanpassungen erzwingen, die zu den Herausforderungen aus Dekarbonisierung und den Veränderungen im internationalen System hinzukommen. Natürlich wird es dabei nicht nur Risiken, sondern auch Chancen für das deutsche Kapital geben. Stellvertretend für anderes sei hier nur darauf verwiesen, dass die Karten beim Maschinenbau inkl. Seiner Digitalisierung oder bei medizinischer Ausrüstung im internationalen Vergleich nicht schlecht sind. Insofern ist es ratsam, gegenüber apokalyptischen Untergangsprophezeiungen Distanz zu halten.

Dennoch muss man konstatieren, dass wir in eine Ära großer Turbulenzen und gesellschaftlicher Erschütterungen eintreten. In Abwandlung des viel zitierten „Vor uns die Mühen der Ebenen“ von Brecht könnte man sagen: Vor uns die Mühen des Hochgebirges – mit Steinschlag, tückischen Gletscherspalten, abrupten Wetterumschwüngen und Lawinengefahr.

Eine gekürzte Version erschien in UZ vom 17. September 2021.

  1. IFOP (2019): Enquête internationale sur la « collapsologie », Novembre 2019, Sondage Ifop pour la Fondation Jean-Jaurès.
  2. So meint z.B. der Träger des Alternativen Nobelpreises, Walden Bello: „Der Neoliberalismus liegt im Sterben.“ https://www.transform-network.net/de/blog/article/nach-dem-neoliberalismus-was/ Eher vorsichtig: Goldberg, Jörg (2021): Ein neuer Kapitalismus? Grundlagen historischer Kapitalismusanalyse. Köln.
  3. Demirovic, Alex et al (2021): Das Chaos verstehen. Eine Zeitdiagnose aus der Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie. In: Das Chaos verstehen. Welche Zukunft in Zeiten von Zivilisationskrise und Corona? Zeitdiagnosen aus dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Hamburg 2021 S. 20 f.
  4. Handelsblatt, 19.7.2021; S. 10.
  5. Das russische Energieministerium hat Pilotprojekte zum Aufbau einer Wasserstoffindustrie gestartet. So entwickelt Gazprom eine Wasserstoffturbine und Rosatom baut ein Versuchsgelände für Lokomotiven mit Wasserstoffantrieb. Zudem sind Nord Stream I und Nord Stream II so ausgelegt, dass sie bis zu 70 Prozent Wasserstoff transportieren können. (Handelsblatt; 28.7.2020; S. 13).
  6. FAZ, 8.5.2021; S. 20.
  7. Wirtschaftswoche 8.7.2020, online; https://www.wiwo.de/politik/europa/klimafreundliche-energien-wasserstoff-strategie-der-eu-eine-million-tonnen-bis-2024/25986464.html.
  8. Insgesamt 56 Rektoren produzieren noch heute über 70 Prozent des französischen Strombedarfs. 2020 wurde eine Laufzeitverlängerung auf 50 Jahre beschlossen.
  9. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Automobilindustrie. https://www.bmwi.de/Redaktion /DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Industrie/branchenfokus-automobilindustrie.html.
  10. Wirtschaftswoche, 8.6.2021. https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/pro-und-contra-elektroauto- vws-radikaler-e-auto-kurs-entzweit-die-eigenen-haendler/27071906.html.
  11. FAZ; 23.07.2021; S. 30.
  12. Elektroauto-News; 22.2.2012; https://www.elektroauto-news.net/elektroautos/bmw-plant-ruecknahmepraemie-fuer-elektroautos.
  13. Für jüngere Leser: In den 1980er Jahren gab es eine intensive Diskussion in der Linken über das Verhältnis von Staat und Kapitalismus. Im Zentrum stand der Begriff Staatsmonopolistischer Kapitalismus, abgekürzt STAMOKAP. S. dazu u.a. Institut für Marxistische Studien und Forschungen (1981/82): Der Staat im staatsmonopolistischen Kapitalismus der Bundesrepublik / Band 1: Staatsdiskussion und Staatstheorie; Band 2: Empirische Analysen, Fakten, Frankfurt/M.
  14. IPE, IKA, RWTH Aachen, FKA, Roland Berger (2020): Automobile Wertschöpfung 2030/2050. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Frankfurt am Main/Aachen/München. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Studien/automobile-wertschoepfung-2030-2050-kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=10.
  15. Handelsblatt, 19.7.2021, S. 10.
  16. Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI (2020): Batterien für Elektroautos: Faktencheck und Handlungsbedarf. Karlsruhe. S. 12/13.
  17. Dazu stellvertretend für viele Waßmuth, Carl/Wolf, Winfried (2020): Verkehrswende. Ein Manifest. Köln.
  18. Statistisches. Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/ handels-partner-jahr.html; Handelsblatt, online, 26.2.2021. https://www.handelsblatt.com/politik/ internatio-nal/interview-joe-kaeser-fordert-gemeinsame-europaeische-antwort-auf-chinas-wirtschaftsstrategie-/26952212.html?ticket=ST-16068661-j5Smx9V7sT3V1eCzj7pA-ap5.
  19. Handelsblatt, online, 26.2.2021. https://www.handelsblatt.com/politik/international/interview-joe-kaeser-fordert-gemeinsame-europaeische-antwort-auf-chinas-wirtschaftsstrategie-/26952212.html?ticket=ST-16068661-j5Smx9V7sT3V1eCzj7pA-ap5.

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