Spekulanten steuern den „neuen“ Gashandel

Vor einem chaotischen Winter

Jens Berger

Wer am Montag Mittag an der niederländischen Energiebörse ICE-Endex innerhalb einer Stunde schnell noch etwas Gas verkaufen wollte, musste den Käufern dafür Geld bezahlen. Zum ersten Mal in der Geschichte notierte der Gaspreis im negativen Bereich. Spekulanten geben sich an Europas Energiebörsen ein Stelldichein und treiben den Preis munter nach oben oder eben nach unten. Gleichzeitig liegen nicht weniger als 60 LNG-Tanker vor Europas Küsten vor Anker und können oder wollen ihre Fracht nicht entladen. Ein Energieanalyst kommentierte dies in einer Chatgruppe mit dem Satz: „Die EU-Regierungen kauften in Panik Gas, als sei es Klopapier während einer Pandemie“. Uns steht ein chaotischer Winter bevor.
Wie kann es sein, dass eine wertvolle Ware wie Erdgas plötzlich nichts mehr wert ist? Um das zu „verstehen“, muss man wissen, wie Gas zurzeit physisch gehandelt wird. Seit Europas Regierungen panisch ihre Speicher gefüllt haben und dabei die Preise fahrlässig in so noch nie gekannte Höhen getrieben haben, ist der Markt ausgetrocknet.

Im Schnitt haben die Speicher der EU einen Füllstand von 93,4 Prozent. In den wichtigsten Abnehmerländern Deutschland und Italien passt gar kein Gas mehr in die Speicher. Man kann also zurzeit ins Verbundnetz nur so viel Gas einspeisen, wie aktuell verbraucht wird. Und das ist erstaunlich wenig – dem Rekord-Oktober mit Durchschnittstemperaturen, die in Mitteleuropa bis zu acht Grad über dem Durchschnitt liegen, sei Dank.

Der Weltmarkt schert sich jedoch normalerweise nicht um solche Fragen. Für die Hedgefonds und Handelskonzerne, die das Gas in den Exporthäfen in den USA, Nigeria, Katar oder Algerien kaufen, zählt letztlich nur ihre Marge. Die war im Sommer, als Europas Regierungen noch wie verrückt Gas zu jedem angebotenen Preis kauften und in ihren Speichern hamsterten, sensationell – rund 150 Millionen Dollar ließen sich damals mit einer einzigen LNG-Lieferung verdienen. Diese Zeiten sind erst einmal vorbei. Als die LNG-Tanker vor einigen Wochen die Exporthäfen verließen, lag der Spotmarktpreis für eine Megawattstunde noch bei über 200 Euro. Aktuell liegt er im Schnitt bei rund 20 Euro. Wer jetzt verkauft, macht Verlust.

Wer jetzt verkauft, ist jedoch unbekannt. Wahrscheinlich sind es Spekulanten, die das Gas schon eingekauft haben, als die Tanker noch auf See waren und die sich auf waghalsige Termingeschäfte eingelassen haben. Bei solchen Geschäften, bei denen es nicht nur um virtuelle Handelsgüter, sondern um reale Rohstoffe geht, die an einen realen Handelsplatz geliefert werden müssen, kann es in der Tat im Extremfall sogar zu negativen Preisen kommen. Bislang ist das aber erst einmal beim Erdöl passiert, als die Corona-Wirren die physische Nachfrage am wichtigen US-Handelsort Cushing, Oklahoma, derart haben einbrechen lassen, dass ein Barrel WTI-Öl am Ende des Handelstages mit minus 37 Dollar notierte.

Wer zurzeit seine Ladung nicht zwingend verkaufen muss, der verkauft auch nicht. Daher liegen ganze 60 LNG-Tanker vor den Häfen Europas vor Anker. Zur Einordnung: Das sind fast 10 Prozent der gesamten weltweiten LNG-Tanker-Flotte. Auf dem Portal „MarineTraffic“ kann man sich die Positionen anzeigen lassen. Die in den Bildern als „rote Punkte“ dargestellten Schiffe sind allesamt LNG- oder Erdöltanker, die zurzeit vor den Häfen von Cadiz/Spanien, Le Havre/Frankreich, Antwerpen und Rotterdam/Belgien und Niederlande und Skagen und Göteborg/Dänemark und Schweden vor Anker liegen. Nur vor Deutschland liegt kein Schiff vor Anker. Deutschland hat kein einziges LNG-Terminal.

Diese Situation stellt eine tickende Zeitbombe dar. Die Spekulanten warten auf bessere Preise. Die werden natürlich kommen; spätestens dann, wenn die Temperaturen sinken und der Verbrauch steigt. Dann werden jedoch die Entlade- und Verflüssigungskapazitäten in den europäischen Terminals nicht ausreichen, um das Gas aus den „schwimmenden Speichern“ so schnell ins Netz einzuspeisen, wie es ge- und verbraucht wird. Die Folge: Um die Differenz auszugleichen, werden die nötigen Mengen aus den Speichern eingespeist werden müssen.

Man kann die beiden Alternativen Pipeline und LNG-Tanker nun einmal nicht 1:1 anhand der theoretischen Lieferkapazitäten miteinander vergleichen. Die Versorgung via LNG erfordert ein ausgeklügeltes Timing und ganz andere Puffer als die regelmäßige, gut planbare Versorgung über Pipelines. Dumm nur, dass diese Puffer in Europa gar nicht vorhanden sind und das Timing Sache von Spekulanten ist.

Hinzu kommt ein weiteres Problem, das sich vor allem aus dem „natürlichen“ Motiv der Spekulanten ergibt, ihre Margen maximieren zu wollen. Wenn die Preise wieder deren Profitschwelle überschritten haben, wird es zum Stau an den Terminals kommen. Ist das Gas dann irgendwann einmal verflüssigt und eingespeist, liegen die Tanker immer noch in Europa und müssen erst einmal in die fernen Häfen der USA, Nigerias oder Katars zurück, um neues LNG zu laden. Die bislang 60 LNG-Tanker wird man also gut einen Monat nach ihrer Entladung in Europa nicht mehr sehen.

Die große Frage ist, ob diese Lücke durch andere Tanker geschlossen werden kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass die komplexe LNG-Versorgung ja nicht generalstabsmäßig zentral geplant wird, sondern den Wirren der Weltmärkte überlassen wurde. Das ist problematisch. So mancher LNG-Tanker, der jetzt aus den Exporthäfen ablegt, dürfte angesichts der niedrigen Margen und des Tanker-Staus in Europa Kurs auf andere Märkte in Asien oder Südamerika nehmen. Bis dieser Tanker wieder zurückgekommen ist und theoretisch Gas für Europa laden könnte, vergehen Wochen bis Monate. So führen die derzeit historisch niedrigen Gaspreise in Europa nicht etwa zu einer Linderung der Gaskrise, sondern möglicherweise indirekt sogar zu ihrer Verschärfung in wenigen Monaten; dann, wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich kalt wird und der Verbrauch in die Höhe steigt. Wie lange werden die Speicher die Differenz ausgleichen können? Welche Auswirkungen wird dies auf den Gaspreis haben?

Die Posse rund um negative Gaspreise und Tanker, die vor Europas Küsten ankern, zeigt, in welchem Chaos wir momentan stecken. Seriöse Prognosen, gleich in welche Richtung, sind nicht möglich. War der „alte“ Gashandel noch durch planbare, zuverlässige und seriös durch beide Parteien vereinbarte Preise gekennzeichnet, ist der „neue“ Gashandel chaotisch, unzuverlässig und einer nur noch wahnsinnig zu nennenden Preisdynamik unterworfen, die von Spekulanten gesteuert wird. Die Zeichen stehen auf Sturm und es ist kein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.

Dieser Beitrag erschien am 26. Oktober 2022 auf den „NachDenkSeiten“. Wir bedanken uns herzlich für die Genehmigung des Abdrucks in der UZ.

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"Vor einem chaotischen Winter", UZ vom 4. November 2022



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