„Soziale Distanz“ ist in den Townships Südafrikas nicht möglich

Vor dem Sturm

Am 5. März wurde der „Patient Null“ in Südafrika positiv auf das Coronavirus getestet. Seit Donnerstag, dem 26. März, um Mitternacht unterliegt auch in Südafrika das öffentliche Leben strengen Einschränkungen. Sie sollen vorerst bis zum 16. April gelten. In einem Land mit einer derart krassen sozialen Spaltung bedeutet das: Isolierung in Palästen für die einen, in Hütten und Baracken für die überwiegende Mehrheit. Mehrere Generationen unter ein und demselben Wellblechdach – wie soll der Schutz der besonders gefährdeten Älteren funktionieren?

Selbstisolierung, „soziale Distanz“, in den dicht besiedelten Townships, wo Hygiene ein bitterer Scherz, fließendes Wasser eine Utopie ist und oft aus Brunnen geholt werden muss? Oft müssen Hunderte sich einen Wasserhahn teilen, das macht das verordnete häufige Händewaschen zur Unmöglichkeit. Sanitäre Anlagen, Zugang zu Elektrizität sind für Millionen Südafrikaner ein unerfüllter Traum.

Bei einer Arbeitslosenrate von offiziell 28 Prozent – 55 Prozent unter jungen Menschen – sind kurzfristige Gelegenheitsjobs in der wirtschaftlichen Grauzone die einzige Möglichkeit, etwas zu verdienen, und das heißt: keine Arbeit, kein Geld. Zu schweigen davon, dass viele Familien auf die kostenlose Schulspeisung für die Kinder angewiesen sind, die Schulen sind aber selbstverständlich geschlossen.

Nun ist festgelegt: Die Behausung darf nur verlassen werden, um existenznotwendige Waren oder Dienstleistungen zu erwerben. Personen, die ohne eine ausreichende Begründung auf der Straße angetroffen werden, riskieren eine Geldstrafe oder sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten.
Die scharfen Bestimmungen des „Lockdown“ wird aber auch das Militär, das zur Unterstützung der Polizei eingesetzt wird, nicht bis zum Letzten durchsetzen können, trotz des wie üblich brutalen Vorgehens der Ordnungshüter – schon in der ersten Woche starben acht Menschen durch Polizeigewalt.
Die Lebensmittelläden bleiben geöffnet, der Verkauf von Alkohol und Zigaretten ist aber untersagt. Von den Notstandsregularien ausgeschlossen sind Arbeiterinnen und Arbeiter in Produktionsbetrieben, die Müllabfuhr, die Angestellten des Handels mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, der Versorgungsbetriebe und des Gesundheits- und Transportwesens, die Polizei und das Militär.

Die Bevölkerung Südafrikas hat mit einer Pandemie schon schreckliche Erfahrungen gemacht. Im Jahr 2018, dem letzten Jahr, für das es verlässliche Statistiken gibt, lebten 7,52 Millionen Südafrikanerinnen und Südafrikaner mit HIV. Fast jeder fünfte Südafrikaner zwischen 15 und 49 Jahren war HIV-positiv und es gab 115.167 Aids-bezogene Todesfälle – weltweit die größte Zahl. Das ist schrecklich, und doch nicht so schlimm wie die Prognosen es vorhergesagt hatten – und es war die Folge von politischem Versagen. Denn der damalige, vom Marxisten zum Thatcheristen gewendete Präsident Thabo Mbeki bestritt die Existenz der Immunschwächekrankheit Aids und empfahl – gemeinsam mit seiner Gesundheitsministerin – zur Behandlung Infizierter Knoblauch, Rote Bete und Vitaminpräparate.

Aufgrund dieser Erfahrungen ernten die Maßnahmen der Regierung unter Präsident Cyril Ramaphosa trotz ihrer offensichtlichen Undurchführbarkeit viel Zustimmung, sowohl in Südafrika selbst als auch international. Schließlich gibt es dazu keine Alternative, außer das Leben Hunderttausender älterer Menschen wird aufs Spiel gesetzt und das derer, die durch Vorerkrankungen geschwächt sind.

Wenn selbst ein europäisches Land wie Italien aufgrund der Unterfinanzierung seines Gesundheitssystems täglich Hunderte von Corona-Toten melden muss – wie soll das schwache staatliche Gesundheitswesen Südafrikas mit der Pandemie umgehen können? Der Generalsekretär der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, Blade Nzimande, fordert, umgehend die privaten Krankenhäuser unter staatliche Kontrolle zu nehmen. Aber auch deren 40.000 Betten werden nicht ausreichen, um die Versorgung Erkrankter sicherzustellen.

Das Vorgehen der Regierung ist allerdings sehr effektiv. In der ersten Woche der Ausgangssperre wurden 47.000 Menschen getestet, davon etwa 1.400 positiv, und 67 mobile Testzentren organisiert. Das offenbar nicht unerreichbare Ziel ist, 30.000 Menschen täglich zu testen. Bis zum Freitag vergangener Woche wurde die unter südafrikanischen Verhältnissen niedrige Zahl von fünf Corona-Toten gemeldet. Das kann nicht beruhigen. „Was wir derzeit erleben, ist die Ruhe vor einem verheerenden Sturm“, warnt Zweli Mkhize, Südafrikas Gesundheitsminister.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Vor dem Sturm", UZ vom 10. April 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit