Manchmal lässt einen UZ im Regen stehen. Am Dienstag vergangener Woche zum Beispiel, auf dem Heinrich-König-Platz in Gelsenkirchen. Der ist an diesem Vormittag um halb elf gesteckt voll, trotz des Wetters. Der ver.di-Landesbezirk Nordrhein-Westfalen hatte für den 21. März im Rahmen der Tarifrunde öffentlicher Dienst zu zentralen Streikkundgebungen aufgerufen: in Köln, Mönchengladbach und eben Gelsenkirchen. 18.500 Kolleginnen und Kollegen hätten sich dafür im Herzen des Ruhrgebiets eingefunden, wird ver.di später melden. Vor der dritten Verhandlungsrunde vom 27. bis 29. März wollten sie den Druck noch einmal erhöhen.
Ab halb zehn sammeln sich die Kollegen an vier gut erreichbaren Orten der Stadt. Alle Teilbereiche des öffentlichen Dienstes waren zum Streik aufgerufen: Stadtverwaltungen, kommunale Betriebe, Kitas, Jobcenter, Sparkassen und mehr. Entsprechend bunt sind die vier Demo-Züge, die sich ab viertel vor zehn in Bewegung setzen. Die Kollegen bekommen viel Zuspruch aus der Bevölkerung: Viele Auto- und Lkw-Fahrer hupen. Manch einer öffnet das Fenster, um die Unterstützung in Worte zu kleiden. Zuschauer winken aus ihren Fenstern oder von ihren Balkons, Daumen gehen hoch.
Der Heinrich-König-Platz liegt im Zentrum Gelsenkirchens. In Sichtweite, kaum hundert Meter weiter, steht das Hans-Sachs-Haus. Darin hat Karin Welge (SPD) ihr Büro. Die Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens ist Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA). Die und das Bundesinnenministerium sind die Adressaten der ver.di-Forderungen. Weil Welge sich während der Verhandlungen gewerkschaftsfeindlich geäußert hatte, wird sie in fast jedem Redebeitrag heftig kritisiert.
Den Anfang macht René Hiller, Stellvertretender Vorsitzender des Personalrats der Stadtverwaltung Gelsenkirchen. Er erinnert daran, dass die VKA vor den Verhandlungen behauptet hatte, ver.di fehle es wohl an Durchsetzungskraft. Das ohrenbetäubende Pfeifkonzert der Kollegen auf dem Heinrich-König-Platz straft Welge und Konsorten Lügen. Eine „regelkonforme Naturgewalt“ seien die Kolleginnen und Kollegen, sagt Hiller.
Kurz darauf hallt die Stimme von Bernd Dreisbusch über den Platz. Das angebliche „12-Prozent-Angebot“ von Welge sei eine Frechheit. „Wir haben in den letzten Wochen Dampf gemacht und werden das fortsetzen!“ Welge hatte die Warnstreiks als „Folklore“ abgekanzelt. „Wenn das Folklore ist, will ich das jeden Tag!“ ruft ver.di-Sekretär Azad Tarhan den Kollegen zu. Die Stimmung ist fröhlich und kämpferisch. Zwischen flatternden ver.di-Fahnen tanzen Regenschirme. Darunter stehen Kollegen, die teils nicht mehr wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen oder Essen auf den Tisch bekommen.
Hauptrednerin ist Christine Behle, Stellvertretende Bundesvorsitzende von ver.di. „Sind die Leistungen der Kollegen in der Krise jetzt alle vergessen?“, fragt sie. Die Kollegen hätten nicht nur Applaus verdient, sondern einen ordentlichen Tarifabschluss. „10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr und 200 Euro für Auszubildende – das ist unsere Forderung, und die ist richtig.“ Die Äußerungen der VKA dienten ausschließlich dazu, den Kollegen den Mut zu nehmen und die Öffentlichkeit gegen sie aufzubringen.
Mit Welge und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (ebenfalls SPD) zu verhandeln sei eine „zweifelhafte Freude“. Da müsse sie sich etwa anhören, die „Arbeitgeber“ seien nicht für Inflationsausgleich zuständig. Im Ruhrpott schätze man klare Sprache, also: „Was ist das denn für eine gequirlte Scheiße?“ Fassungslos mache sie auch die Behauptung, es gebe keinen Personalmangel im öffentlichen Dienst. Behle rechnet vor: 200.000 unbesetzte Stellen alleine in Krankenhäusern, ebenso viele in den Wohngeldstellen. 5.000 Feuerwehrleute fehlten, 15.000 im ÖPNV. In den nächsten zehn Jahren blieben eine Million Stellen im öffentlichen Dienst unbesetzt.
Das letzte Angebot der VKA ermögliche gar Lohnkürzungen von bis zu 6,5 Prozent. „Gerade wurde noch geklatscht, jetzt gibt’s was aufs Maul“, kommentiert Behle. Sie verweist auf die Sparkassen. In der letzten Tarifrunde habe man die Kollegen dort der niedrigen Zinsen wegen kurz gehalten, jetzt versuche man das der hohen Zinsen wegen. „Ein Sonderopfer für die Sparkassen kann es nicht geben!“ 3.000 Euro Inflationsausgleichsprämie nehme man gerne obendrauf, aber nicht als Ersatz für Lohnerhöhungen. Einen Abschluss ohne Mindestbetrag werde die Gewerkschaft nicht akzeptieren, darauf besteht Behle. Notfalls gehe man in einen Erzwingungsstreik.
Psychischer Druck und Überlastung stünden im öffentlichen Dienst auf der Tagesordnung, berichtet Nina Brouka. Die Vorsitzende der JAV der Stadtverwaltung Gelsenkirchen geht vor allem auf die Bedürfnisse der Auszubildenden ein. Jahrzehntelang sei gespart, notwendige Investitionen in die Jugend immer weiter aufgeschoben worden. Von wegen „Kein Bock auf Arbeit“: „Junge Menschen haben einfach keinen Bock mehr, sich unter schlechten Bedingungen ausbeuten zu lassen!“
ver.di-Landesfachbereichsleiterin Besondere Dienstleistungen NRW, Angelika Becker, stellt die laufende Tarifrunde in einen größeren Zusammenhang. Seit 30 Jahren höre sie, die Kassen seien leer. Nötig sei ein Altschuldenschnitt für die Kommunen. „Das Geld ist da, es muss nur anders verteilt werden.“ Dafür bekommt sie tosenden Applaus. Von der Inflation seien besonders die unteren Einkommensgruppen betroffen. „Wir sind solidarisch mit unseren Kollegen. Wir lassen uns nicht spalten“, ruft Becker. Sonderopfer dürfe es nicht geben.
Die Solidarität ist hörbar und fühlbar an diesem Dienstag in Gelsenkirchen. Hoffentlich lässt die Gewerkschaftsführung die Kolleginnen und Kollegen nicht im Regen stehen.