Mit einem offenen Brief haben sich 20 Bochumer Organisationen, darunter auch die Soziale Liste Bochum, an Oberbürgermeister Thomas Eiskirch und den Geschäftsführer des Bochumer Jobcenters Frank Böttcher gewandt. Sie fordern die Verantwortlichen dazu auf, die bis zu 1 000 anerkannten Flüchtlinge, die durch das sogenannte „Integrationsgesetz“ von einer Vertreibung aus Bochum bedroht sind, hier wohnen zu lassen. Außerdem müssen die lebensnotwendigen Zahlungen von Sozialleistungen sofort und unbürokratisch wieder aufgenommen werden.
Im Brief heißt es:
„… wir, die unterzeichnenden Einzelpersonen und Gruppen, haben mit Bestürzung erfahren, dass zahlreiche geflüchtete Menschen, die mit uns in unserer Stadt leben, von einer Vertreibung aus Bochum bedroht sind. Mehrere von ihnen haben von der Stadt Bochum Briefe erhalten, in denen sie dazu aufgefordert werden, in kürzester Zeit die Stadt zu verlassen oder aber sich darauf einzustellen, dass eine solche Aufforderung demnächst erfolgen kann. Nach Aussage von Stadtdirektor Michael Townsend soll es sich um bis zu 1 000 Menschen handeln.
Die Entscheidung des Verwaltungsvorstands, den Menschen, die vor dem 6. August nach Bochum gezogen sind, bis zum 1. Dezember keine Umzugsaufforderung zuzusenden, gibt den Betroffenen zumindest eine kurzfristige Entspannung. Dennoch löst sie das Problem nicht, im Gegenteil: Unsere neuen Mitbürger*innen müssen auf diese Weise noch viele Wochen in einem unsicheren und äußerst belastenden Status verharren. Wir fordern Sie hiermit auf, die integrationsfeindlichen und existenzbedrohenden Maßnahmen zu unterlassen und sich entschieden dafür einzusetzen, dass Bochum weiterhin eine freundliche und offene Willkommenskultur lebt.
Das sogenannte „Integrationsgesetz“ ist erst vor einem Monat in Kraft getreten. Nach städtischer Auslegung der im Gesetz enthaltenen Wohnsitzauflage sollen die Betroffenen ihre hiesige Existenz aufgeben. Sie sollen an Orte zurückkehren, die sie nach ihrer positiven Asylentscheidung zum Teil schon vor Monaten aus eigener, bewusster Entscheidung verlassen haben.
Ihr Umzug nach Bochum erfolgte in völligem Einklang mit den zu diesem Zeitpunkt geltenden Gesetzen. Die betroffenen Menschen haben in Bochum eine Wohnung gefunden, besuchen einen Integrationskurs oder stehen hierfür auf der Warteliste, ihre Kinder besuchen hier Kindergärten und Schulen. Viele haben hier Freunde gefunden und Kontakte zu anderen Bochumerinnen und Bochumern geknüpft.
Das Jobcenter Bochum verweigert bisher einem Teil der Betroffenen die Zahlung der lebensnotwendigen Leistungen. Den Menschen drohen nun Zwangsvollstreckungen, da sie ihre Miete nicht mehr zahlen können. Sie stehen vor der Gefahr ihre Krankenversicherung zu verlieren. Mindestens ein Fall ist inzwischen bekannt, bei dem die zuständige Krankenkasse ein Schreiben versandt hat, um mitzuteilen, dass der Versicherungsschutz erloschen ist. Anstatt den Menschen die ihnen zustehenden Leistungen zu zahlen, versuchte das Jobcenter sie dazu zu bewegen, dass sie per Unterschrift zustimmen, dass ihr Antrag an das Jobcenter der Stadt weitergeleitet wird, in die sie umziehen sollen.
Die betroffenen Menschen sollen an Orte zurückkehren, in denen sie Ablehnung, Feindschaft und auch körperliche Angriffe erlebt haben – in Gegenden, in denen es nicht leicht ist, neue Freunde zu gewinnen. Diese Maßnahmen setzen die Betroffenen massiv unter Druck. Die Verweigerung von existenzsichernden Leistungen kommt einer Erpressung gleich. Ein Zwangsumzug bedeutet für sie eine unzumutbare Härte.
Die Wohnortzuweisung ist unseres Erachtens auch mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. Artikel 33 der EU-Qualifikationsrichtlinie garantiert für Flüchtlinge und subsidiär Geschützte das Recht auf Freizügigkeit, wie auch Artikel 26 der Genfer Flüchtlingskonvention. In Urteilen vom 1.3.2016 (C – 443/14, C – 44/14) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Einführung einer Wohnortzuweisung aus fiskalischen Gründen weder mit der Genfer Flüchtlingskonvention noch mit der EU-Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. Zudem stellte das Gericht fest, dass eine Wohnortzuweisung nur dann mit integrationspolitischen Gründen zu rechtfertigen ist, wenn dadurch keine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Migrant*innen-Gruppen entsteht. Personen, die mit einem Visum zum Familiennachzug oder zu Arbeitszwecken kommen, sind bekanntlich nicht von einer Wohnortzuweisung betroffen. Es liegt hier also eine Ungleichbehandlung vor, die nach der EU-Qualifikationsrichtlinie ausdrücklich nicht zulässig ist.
Herr Oberbürgermeister Eiskirch, wir fordern Sie dazu auf,
• die betroffenen Menschen ihr hier in unserer Stadt begonnenes Leben fortführen zu lassen.
• alle rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen und Ihre Mitarbeiter*innen anzuweisen, die Wohnsitzauflage auf alle in Bochum lebenden Geflüchteten nicht anzuwenden.
• Ihr politisches Gewicht in Düsseldorf und Berlin dazu einzusetzen, dass die Wohnsitzauflage in NRW nicht umgesetzt wird und das Gesetz im Bundestag umgehend geändert wird.
Herr Böttcher, als Geschäftsführer des Jobcenters fordern wir Sie auf
• dafür Sorge zu tragen, dass die Zahlung der existenzsichernden Leistungen an die Betroffenen unverzüglich wieder aufgenommen wird, und dass die Anträge auf Leistungen sofort bearbeitet und positiv entschieden werden.“