Mit dem Super Bowl steht das größte Sportereignis der USA vor der Tür. Ihre Popularität verdankt die NFL vor allem den erzählten Geschichten

Von Underdogs und Milliardären

Es war an einem frühen Montagmorgen deutscher Zeit, als Brock Purdy, Quarterback der San Francisco 49ers, seine geballte Faust in die Luft streckte und gegen eine Wand aus Lärm anschrie. Soeben hatte der Spielmacher seine Mannschaft in den Super Bowl geführt. Begleitet wurde die Szene von den stürmischen Jubelschreien der Fans im Stadion, die zwischenzeitlich den Glauben verloren hatten. Ganze 17 Punkte hatten die 49ers zur Halbzeit zurückgelegen. Zeitweise wirkten ihre Gegner, die Detroit Lions, nahezu übermächtig.

Dabei war es schon eine Besonderheit, dass es die Löwen aus der traditionellen Arbeiter- und Autostadt überhaupt bis in das NFC-Championship-Spiel, ein Halbfinale der National Football League (NFL), geschafft hatten. Jahrelang dümpelten die Lions am unteren Ende der Liga herum, spiegelten sportlich den fortschreitenden Verfall ihres Heimatorts wider. Nun standen sie kurz vor dem Einzug in das größte Sportereignis der USA. Doch in der zweiten Halbzeit machten die 49ers ernst, holten den Rückstand auf und buchten mit einem Endstand von 34 zu 31 das Ticket für das Endspiel in Las Vegas. So ein Comeback im Halbfinale war seit der Erfindung des Super Bowl (1967) erst einer Mannschaft gelungen: den 49ers in der Saison 2012.

Es sind solche Wendungen, die Millionen US-Amerikaner in die Stadien und vor die Fernseher ziehen. Nicht umsonst bezeichnet der einflussreiche Sportjournalist Rich Eisen die NFL als „Narrative generating machine“ – als Erzählmaschine. Während hierzulande vor allem über die (oft grauenvolle) Halbzeitshow, die sündhaft teuren Tickets und das ungesunde amerikanische Essen diskutiert wird, hängen die Footballfans an ihren Clubs und deren Geschichten. In der Nacht auf den kommenden Montag werden sich voraussichtlich mehr als 100 Millionen Menschen vor den Bildschirmen versammeln, um den Kampf um die begehrte Lombardi-Trophy zu verfolgen.

Brock Purdy und die 49ers treffen auf die Kansas City Chiefs und ihren Star-Quarterback Patrick Mahomes. Die Chiefs sind die amtierenden Titelverteidiger und konnten das zweite Halbfinale gegen die Baltimore Ravens für sich entscheiden. Die meisten Experten halten Mahomes für den besten Spielmacher der Liga, nicht wenige für einen der besten aller Zeiten. Als Quarterback spielt er die wichtigste Rolle in der Mannschaft. Er nimmt zu Beginn eines Spielzuges den Ball in die Hand und wirft oder übergibt ihn an seine Mitspieler, die ihn dann nach vorne tragen. Das Ziel ist es, mit vier Versuchen mindestens zehn Yards zu überbrücken. Gelingt das, gibt es neue vier Versuche. Wenn nicht, erhält der Gegner den Ball. Kommt der Ballträger am gegnerischen Ende des Feldes an, wird er mit einem Touchdown und sechs Punkten belohnt. Patrick Mahomes zeichnet sich durch ein überragendes Spielverständnis und hohe Athletik aus. Mit einem Jahresgehalt von 45 Millionen US-Dollar gehört er zu den bestbezahlten NFL-Spielern.

Von solchen Summen kann Brock Purdy nur träumen. Statt in einer Villa zu residieren, teilt er sich die Miete mit einem Teamkollegen. Mit einem Einkommen von 870.000 Dollar spielt er zum Quarterback-Mindestlohn. Viele Ersatzspieler, die nur dann aufs Feld kommen, wenn sich die Stars der 32 NFL-Teams verletzen, verdienen deutlich mehr. Dabei ist Purdy kein schlechter Quarterback – im Gegenteil. In dieser Saison gewann er mehr Spiele als sein Kontrahent Mahomes, stach ihn in wichtigen Statistiken aus. Bis zuletzt galt er als heißer Kandidat für den erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ vergebenen MVP-Award, die Auszeichnung für den wertvollsten Spieler der Liga.

Der irre Gehaltsunterschied hat zwei Gründe. Mahomes ist seit Jahren etabliert, Purdy spielt noch unter seinem Anfängervertrag. Die entscheidende Ursache ist jedoch der sogenannte Draft. Über dieses System werden die ausscheidenden College-Spieler auf die NFL-Teams verteilt. Das funktioniert wie die Mannschaftsbildung beim Schulsport: das schlechteste Team der vergangenen Saison wählt zuerst und dann der Reihe nach die anderen 31. Wer in der ersten Runde gezogen wird, gilt als zukünftiger Superstar und verdient – je nach Position – schon in seinem ersten Vertragsjahr mehrere Millionen US-Dollar. Brock Purdy wurde als letzter Spieler in der letzten Runde ausgewählt, was ihm den Titel „Mr. Irrelevant“ einbrachte. Im besten Fall hätte er mit einer Karriere als Ersatzmann des Ersatzmanns rechnen können. Doch im Jahr 2022 verletzten sich die zwei anderen Quarterbacks der 49ers. Purdy rückte auf und überzeugte sofort. Er wurde der erste „Mr. Irrelevant“, der jemals einen Pass warf oder einen Touchdown erzielte. Nun ist er der erste, der sein Team in den Super Bowl führt.

Der Draft spielt eine entscheidende Rolle im Ligabetrieb. Die Qualitätsunterschiede zwischen den Teams sind oft gering. Ein schlechter Saisonabschluss kann deshalb zu einer guten Ausgangsposition für das nächste Jahr führen. Wenn Spieler gehandelt werden, werden keine Ablösesummen gezahlt, sondern Draft-Picks getauscht. Zudem gilt eine Gehaltsobergrenze pro Mannschaft. Wer teure Spitzenspieler beschäftigt, muss das Geld an anderer Stelle im Kader einsparen. Dadurch wird das Zusammenkaufen von Superstars und das finanzielle Überflügeln anderer Mannschaften verhindert. Solche Regeln halten die Spannung aufrecht in einer Liga, deren Clubs fast ausschließlich gelangweilten Milliardären gehören. Es wäre ja öde, wenn immer die Reichsten gewännen. Was fast schon fortschrittlich klingt, sorgt in erster Linie also für hohe Verkaufszahlen, Einschaltquoten und spannende Geschichten. Die nächste wird von Sonntag auf Montag erzählt.

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"Von Underdogs und Milliardären", UZ vom 9. Februar 2024



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