Die Stoßrichtung des Kampfes gegen Verschwörungstheorien war historisch für die Arbeiterbewegung immer klar: Für die wissenschaftliche Erkennbarkeit der Welt und gegen Aberglauben. Politisch geht es darum, den Versuch der herrschenden Klassen zu bekämpfen, die berechtigte Wut der Unterdrückten über die Verhältnisse auf Ketzer, Minderheiten, Andersgläubige abzulenken. Heute entstehen Zweifel, weil sich die herrschende Klasse selbst zum Vorkämpfer gegen „Verschwörungstheorien“, „Fake News“ und „Narrative“ erklärt. Nicht zum ersten Mal werden fortschrittliche Begriffe erfolgreich zur Förderung der Volksgemeinschaft und der Integration der Linken umgedeutet.
Wir haben das beim Missbrauch von „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ zur Formierung der Heimatfront für den Angriff auf Jugoslawien erlebt. Da wurde der Krieg „angesichts der besonderen geschichtlichen Verantwortung Deutschlands“ als notwendiger Kampf gegen den „serbischen Faschismus“ verkauft. Heute wird die Plattform „German Foreign Policy“ bei Facebook von einem Fakten-Checker als Fake-News- Verbreiter abgestempelt. Auf Druck der Bundesregierung löschen soziale Medien „Verschwörungstheorien verbreitende Nutzerkonten“ aus China und Russland. Die vier Verteidigungsminister der größten EU-Staaten fordern, die „strategische Kommunikation“ gegenüber der Bevölkerung „zu stärken“, um „feindlichen und/oder falschen Narrativen entgegenzuwirken“. Wissenschaftler, die zu anderen Ergebnissen kommen als die jeweils von der Regierung zum Thema Corona erwünschten, werden von der Mainstream-Presse entweder als Verschwörungstheoretiker totgeschwiegen oder öffentlich hingerichtet.
Die Bourgeoisie setzt heute sowohl auf Verschwörungstheorien als auch auf einen vermeintlichen Kampf gegen sie.
Der ökonomische Kern
Eine hochentwickelte kapitalistische Gesellschaft ist durch einen hohen Grad der Vergesellschaftung der Produktion mit den Monopolen im Zentrum bestimmt. Das bedeutet: Mannigfaltige, wechselseitige Abhängigkeiten in Produktion, Distribution, Bankwesen bis hin zum Staatsapparat unter Führung einer zahlenmäßig unbedeutenden Minderheitenklasse. Die wachsende Vergesellschaftung verlangt das aktive Mitwirken eines immer größeren Teils der Bevölkerung. Zugleich ist das System aber von tiefen Interessengegensätzen mit dem Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital als Kern durchzogen. Im monopolistischen Stadium des Kapitalismus erwachsen weitere Widersprüche und die Herrschaftsausübung ändert sich: Viel unmittelbarer stellt sich die Frage nach Krieg und Frieden, nach Militarisierung und Faschismus, nach Umweltzerstörung. Das Gesamtsystem produziert – aus dem Widerspruch zwischen Monopolkapital und Volksmassen resultierend – gesetzmäßig immer wieder neues Protestpotential. Welches Bewusstsein prägt solche Protestbewegungen?
Primäres Bewusstsein
Das Bewusstsein spiegelt die erlebte Wirklichkeit wider, stößt aber ohne wissenschaftliche Einsicht nicht zu den hinter den Erscheinungen liegenden Gesetzmäßigkeiten vor. So erleben Lohnabhängige ihre Kolleginnen und Kollegen als Konkurrenten, zugleich erfahren sie, dass sie nur gemeinsam mit ihnen ihre Interessen gegen das Kapital durchsetzen können. Objektiv angelegt sind daher sowohl Ellenbogenmentalität als auch gewerkschaftliches Klassenbewusstsein. Beides formt im Kopf eine widerspruchsvolle Einheit. Die erste Erfahrung lähmt und richtet sich gegen Kollegen, die zweite gibt Rückenwind für die aktive Wahrnehmung eigener Interessen.
Im Kapitalismus steht die Produktion der materiellen Güter unter dem Kommando der Kapitalverwertung. Arbeits- und Verwertungsprozess sind untrennbar verwoben und deshalb schwer auseinanderzuhalten. Spontan drängt sich auf, die Profitmacherei als natürliche Begleiterscheinung der notwendigen Versorgung der Menschen mit Gütern misszuverstehen. Aber auch die gegenteilige falsche Sicht findet sich, bei der die Versorgungsfunktion völlig hinter dem Profit verschwindet. Etwa, wenn eine linke Gruppe bei der Kundgebung am 1. Mai in Hamburg zum Schutz der Beschäftigten vor Corona die völlige Stilllegung der Produktion fordert, denn Geld sei ja genug da. Man kann aber Geld nicht essen, es allenfalls als Ersatz für fehlendes Toilettenpapier nutzen.
Dieses aus der widersprüchlichen Oberfläche des Kapitalismus entstehende Alltagsbewusstsein nennt der Faschismusforscher Reinhard Opitz primäres Bewusstsein. Es beinhaltet bei den Unterdrückten sowohl eine falsche Wahrnehmung der Interessenlage als auch die lebendige Erfahrung von Widerspruch zur Bourgeoisie und den Übergang zum Widerstand.
Ablenkungsmanöver
Das auf das aktive Einverständnis der Unterdrückten angewiesene Kapital hat ein objektives Interesse an einer über die Widersprüchlichkeit des primären Bewusstseins hinausgehenden Verfälschung. Das nennt Opitz sekundäre Bewusstseinsfalsifikation. Sie ist die Aufgabe der bürgerlichen Ideologieproduktion, die uns von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Verschwörungstheorien und auch der scheinheilige Kampf der Herrschenden dagegen sind Teil dieser Produktion. Beide knüpfen am Alltagsbewusstsein an, greifen erlebte Zumutungen des Kapitalismus auf, lenken aber vom systemischen Charakter der Zumutungen ab. Beide haben zudem die Funktion zu verhindern, dass aus Protestpotential realer Widerstand wird, der Sand ins Getriebe bringt und das wissenschaftliche Begreifen des Wesens dieser Klassengesellschaft fördert. Beide wirken für dieses Ergebnis sogar aus scheinbar entgegengesetzten Positionen zusammen und geben sich gegenseitig die besten Vorlagen.
Protest ist berechtigt
Das in den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen sichtbar gewordene Protestpotential ist in mehrfacher Hinsicht berechtigt: Das gilt für den Protest gegen die wirtschaftliche Verelendung gerade der kleinen Gewerbetreibenden und Solo-Selbstständigen genauso wie gegen den dramatischen Abbau von Freiheits- und Widerstandsrechten. Die Demonstrationen bringen außerdem das Empfinden zum Ausdruck, in einer fast mit Kriegszeiten vergleichbaren medialen Gleichschaltung belogen zu werden. Albert Camus formulierte 1947: „Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“ Das aufklärerische Verlangen nach einer offenen wissenschaftlichen Debatte über die Gefährlichkeit des Virus und die Sinnhaftigkeit der verhängten Maßnahmen ist ein drittes treibendes Moment des Protestes.
Bei diesen Demos sind natürlich auch Verschwörungstheoretiker am Werk. Sie knüpfen an den genannten Missständen an, spitzen die Wut darüber in einer besonders scharfen Form zu. Ihnen gelingt es oft, sich als Bollwerk des Widerstandes zu präsentieren. Eine sich verbürgerlichende „Linke“ hilft dabei, indem sie die eigene Kritik immer harmloser und staatstragender formuliert. Verschwörungstheorien vernebeln aber die Ursachen der Missstände und lenken die aufgestaute Wut auf „Nebenkriegsschauplätze“ ab, wie die Interessen eines Bill Gates, das Impfen oder das Tragen von Masken.
Viel verbreiteter als die Verschwörungstheorien auf den Demos ist aber der Verschwörungsvorwurf gegen diese Demos. Sie kommen aus Politik, Medien und auch Teilen der Linken. Jeder, der die Gefährlichkeit des Virus relativiert, die Regierungsmaßnahmen und ihre Wirksamkeit in Frage stellt, wird als dumpfer, Corona leugnender Verschwörungstheoretiker abgestempelt und zum Objekt oftmals peinlich dummer Fakten-Checker.
Als Verschwörungstheoretiker gilt auch der, der nicht das Virus zum eigentlichen Problem macht, sondern die Klassenverhältnisse, auf die es trifft, wie Arbeits- und Wohnverhältnisse, Ernährung, Gesundheitsversorgung, Umweltverschmutzung, Zustände in den Pflegeheimen der Armen. Der Bannstrahl Verschwörungstheorie ist wesentlicher Teil der ideologischen Formierung einer Volksgemeinschaft, die, wenn man den aktuellen Meinungsumfragen glaubt, relativ erfolgreich ist. Sie hat das Bild gezeichnet: Das Virus ist eine von außen kommende Menschheitsbedrohung. In dem notwendigen „Krieg gegen das Coronavirus“ (Macron) muss alles andere zurückstehen, müssen zentrale Grundrechte auf dem Notverordnungswege verstümmelt werden, kleinlicher Verteilungskampf muss beendet werden, alle müssen an einem Strang ziehen, Kriegshelden werden gefeiert und Zweifler gekreuzigt. Wenn so etwas passiert, müssen bei Kommunisten alle Alarmglocken klingeln. Denn es ist offensichtlich, dass die Bourgeoisie die Pandemie nutzt, um die Arbeiterklasse in der kapitalistischen Krise ihrer Kampfrechte zu berauben und sie praktisch und ideologisch wehrlos zu machen.
Gegner ist die herrschende Klasse
Der Kampf gegen die reale und ideologische Formierung durch Monopole und kapitalistischen Staat muss deshalb immer im Zentrum der Arbeit von Kommunisten stehen. Sieht man davon ab, dass eine kleine kommunistische Partei nicht überall sein kann, wäre ein Teil dieser Aufgabe, natürlich auch auf den Demos im Sinne einer Volksfrontpolitik zu wirken: Berechtigtes aufgreifen, es gegen Bourgeoisie und Staat ausrichten und Reaktionäres zurückdrängen. Nicht in diesem Sinne auf den Demos einzugreifen ist angesichts der Prioritäten nachvollziehbar. In den Dienst der herrschenden Verhältnisse stellt man sich allerdings, wenn man nicht das den Protest hervorrufende Handeln der Herrschenden angreift, sondern mit dem Vorwurf, hier seien Verschwörungstheoretiker am Werk, den Protest selbst zum Ziel des eigenen Angriffs macht.
Verschwörungen stehen also für drei Varianten bürgerlicher Herrschaftsdurchsetzung:
Erstens gibt es immer wieder reale Verschwörungen. Wenn Vertreter der Automobilindustrie sich mit ihrer Regierung treffen, damit ihren Absatzinteressen Vorrang eingeräumt wird gegenüber den Interessen der Bevölkerung an gesunder Luft, dann ist das eine Verschwörung. Kapitalistische Herrschaft beruht – Marxisten wissen das – nicht auf einer Praxis von Verschwörungen, sondern letztlich auf der durch das Privateigentum an Produktionsmitteln hervorgebrachten kapitalistischen Ausbeutung. Weil diese Herrschaft aber schon lange nicht mehr ohne ein Mindestmaß an geheimer Koordination und Absprache unter den Herrschenden funktioniert, sind Verschwörungen eine stets geübte Praxis im Kapitalismus.
Zweitens gibt es Verschwörungstheorien, die von realer Klassenherrschaft ablenken und stattdessen das Bestehen von Herrschaftsverhältnissen aus der – mehr oder weniger geheimen – Absprache der Verschwörer deuten. Verschwörungstheorien sind darauf angelegt, Empörung zu sammeln beziehungsweise zu generieren. Weil sie aber der für den Kampf gegen die realen Herrschaftsverhältnisse notwendigen Erkenntnis der Zusammenhänge entgegenwirken, sind sie nie in der Lage, den Kampf gegen reale Klassenherrschaft zu befördern. Im Gegenteil: Sie schädigen diesen Kampf und bewirken, dass ein Potential von Empörten entsteht, welches sich – da unklar über die realen Herrschaftsverhältnisse – auch für Ziele und Zwecke der Bourgeoisie einspannen lässt.
Und drittens gibt es auch noch den – von bürgerlicher Seite erhobenen – wohlfeilen Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ gegen alle, die in unserer angeblich so demokratischen Gesellschaft überhaupt noch von Herrschaftsverhältnissen sprechen. Dieser bürgerliche Verschwörungstheorie-Vorwurf ist also eine Methode der Herrschenden, reale Herrschaft hinter dem Bild der liberalen Demokratie und ihrer wohlanständigen Bürger zu verstecken. Sie spielt sich als demokratisch, gar antifaschistisch auf, ist aber getragen von einer elitären Missachtung der Lebensbedingungen jener Massen, die erfahren, dass die reale Herrschaftspraxis ihre Interessen kontinuierlich verletzt.
Die demokratischen und antifaschistischen Kräfte versagen, wenn sie, statt die Unzufriedenheit der Menschen über die stattfindende Interessenverletzung zu begrüßen, die Unzufriedenheit zum Problem erklären. Es ist die genuine Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten, den Protest, der durch die Herrschaftsausübung im Kapitalismus hervorgerufen wird, zu ermutigen und dafür zu wirken, dass der Protest sich entlang der wirklichen Frontstellung im Klassenkampf ausrichtet.