Die Pleite des deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard zieht immer weitere Kreise. Drei Vorstandsmitglieder sitzen in U-Haft, eines befindet sich auf der Flucht, während die strafrechtlichen Ermittlungen immer neue Verstrickungen des Unternehmens mit staatlichen Organen zu Tage fördern. Das „Handelsblatt“ berichtete am Dienstag, dass das Unternehmen schon seit 2008 rote Zahlen schrieb. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied sagte gegenüber dem Blatt, dass er den Wirecard-Chef Markus Braun darauf hingewiesen hatte, dass die veröffentlichten Zahlen nur durch massive Eingriffe in die Buchhaltung zustande kamen. Er merkte aber schnell, dass es bei Wirecard nur darum ging, „eine Story für die Kapitalmärkte zu produzieren“. Erst detaillierte Recherchen der „Financial Times“ zu den Unregelmäßigkeiten bei Wirecard Anfang 2019 führten dazu, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) reagierte und den Konzern mit dem Verbot von „Leerverkäufen“ unterstützte. Zugleich erstattete die BaFin Anzeige gegen einen recherchierenden Journalisten und unterzog die Firma lediglich einer Überprüfung durch die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR). Jörg Kukies, Staatssekretär im Finanzministerium und Leiter des Verwaltungsrates der BaFin, gab gegenüber den Obleuten im Bundestagsfinanzausschuss zu, dass er Finanzminister Olaf Scholz (SPD) seit Anfang des Jahres über die Entwicklungen bei Wirecard fortlaufend unterrichtet hatte. Zudem habe er mindestens zwei Gespräche mit Wirecard-Chef Markus Braun geführt, eines am 4. September, eines am 5. oder am 15. November 2019. Den Inhalt der Gespräche hält das Ministerium geheim; von dem Gespräch im November heißt es, ein Protokoll sei nicht erstellt worden.
An jenem 5. November 2019 meldete der Unternehmensvorstand, dass Wirecard den chinesischen Zahlungsabwickler „AllScore Payment Services“ zu 80 Prozent übernehme. Die restlichen 20 Prozent sollten zwei Jahre später folgen. Scholz hatte die Komplettübernahme möglich gemacht. Im Rahmen des „Deutsch-chinesischen Finanzdialogs“ in Peking im Januar 2019 hieß es, dass deutsche Firmen auf dem chinesischen Markt für Zahlungsdienstleistungen willkommen seien. „AllScore Payment Services“ stand zu diesem Zeitpunkt schon im Visier chinesischer Behörden. Im April 2019 musste das Unternehmen die bislang höchste Strafe in der Branche von 9,3 Millionen US-Dollar wegen Abwicklung von Zahlungen bei in China verbotenen Glücksspielen zahlen.
Am China-Deal beteiligt war aber nicht nur das Bundesfinanzministerium, sondern auch Karl-Theodor zu Guttenberg, zwischen 2009 und 2011 zuerst Bundeswirtschafts-, dann Bundesverteidigungsminister. Als Gründer und Chef des Beratungsunternehmens „Spitzberg Partners“ in New York hatte Guttenberg seinen Mitarbeiter Urs Gatzke, von 2004 bis 2013 Büroleiter der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) in Washington, beauftragt, das Bundesfinanzministerium zu bitten, die zuständigen Regierungsstellen in Peking über das Interesse von Wirecard am Eintritt in den chinesischen Markt zu informieren. Laut „ Spiegel“-Bericht kam Staatssekretär Wolfgang Schmidt im Juni 2019 den Wünschen nach und informierte den Wirtschaftsberater der Bundeskanzlerin, Lars-Hendrik Röller. Laut „Frankfurter Allgemeine“ bat Schmidt diesen zusätzlich um „Flankierung“. Diese erhielten Guttenberg und Wirecard beim China-Besuch von Angela Merkel. Die Kanzlerin habe das Thema angesprochen und man werde sich um „weitere Flankierung“ kümmern, schrieb Röller in einer E-Mail an Guttenberg. Dieser war kurz vor der Dienstreise bei Merkel persönlich vorstellig geworden. Zu dieser Zeit ermittelte die Staatsanwaltschaft in Singapur schon gegen Wirecard, wo das Unternehmen frei erfundene Milliardenguthaben geparkt hatte.
Am 13. August bat der Wirecard-Lobbyist Klaus-Dieter Fritsche, ehemaliger Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, beim Bundeskanzleramt um einen Termin für Wirecard. Das Kanzleramt forderte daraufhin im Finanzministerium nähere Informationen über Wirecard an und erhielt laut „Frankfurter Allgemeine“ am 23. August 2019 per E-Mail Kenntnis von den „öffentlich bekannten Vorwürfen gegen das Unternehmen“, unter anderem von „Geldwäschevorwürfen und Marktmanipulation“. Das veranlasste die Bundesregierung dennoch nicht zum Handeln. Sie protegierte Wirecard weiter bei ihren China-Geschäften. Dem flüchtigen Vorstandsmitglied Jan Marsalek werden zudem weitere Geheimdienstkontakte nachgesagt. Er soll der Drahtzieher des Milliardenbetrugs von Wirecard sein.