Thomas Metscher
Pariser Meditationen
Zu einer Ästhetik der Befreiung
Mangroven Verlag 2019
536 Seiten, 30,- Euro
Thomas Metscher, der marxistische Philosoph und Literaturwissenschaftler, hat in den Jahren von Frühjahr 1988 bis Herbst 1991 ein umfassendes Manuskript abgeschlossen, das den Titel „Pariser Meditationen“ trägt. Der Untertitel lautet: „Zu einer Ästhetik der Befreiung“. Erschienen ist das Buch erstmals 1992 im Wiener Verlag für Gesellschaftskritik, der mit der Kommunistischen Partei Österreichs verbunden war. Den Verlag gibt es heute nicht mehr. Umso verdienstvoller ist es, dass ein engagierter Verlag – der in Kassel ansässige Mangroven Verlag – den auf dem Büchermarkt vergriffenen Band nunmehr in zweiter Auflage herausbringt. „Das gründlich Gedachte übersteht auch den Wechsel der Zeit“, darf man zustimmend den Autor zitieren und dem Verleger Mahaboob Hassan besonderen Dank und Anerkennung zollen.
Metschers Buchtitel erinnert an Karl Marx’ „Pariser Manuskripte“ von 1844, auch bekannt als „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“. Beim Untertitel wird die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss in Erinnerung gerufen. Beide – Marx und Weiss – deuten, jeder auf seine Weise, die philosophische und ästhetische Dimension des mehr als 500-seitigen Bandes an. Zwei historische Daten bilden den biografischen und historischen Hintergrund des Werks: 1958, das Jahr einer ersten Reise des Autors nach Paris mit eher persönlich-privaten Eindrücken, und das Jahr 1988, als sich der Kongress der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie in Paris getroffen hat – das Jahr auch, auf das in Deutschland 1989 das Ende der DDR folgte. Der Band reflektiert nicht zuletzt auch diesen geschichtlichen Einschnitt, der auch Metschers politische Biografie tangierte, von der er sagt: „Es ist die eines politisch lange Jahre an den westeuropäischen kommunistischen Parteien orientierten Marxisten – schwankend zwischen DKP-Orthodoxie und eurokommunistischer Revision.“
Schon die wenigen Andeutungen zur Periode der Niederschrift des Buches und zu den assoziativen Bezügen der Titelgebung lassen die Spannbreite erkennen, innerhalb derer sich die Inhalte der Veröffentlichung bewegen. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass Metscher einerseits historisch weit auf Vergangenes zurückblickt und andererseits weit über das Hier und Jetzt hinausschaut. Letzteres verweist auf die befreiende Zukunftsperspektive des Sozialismus, während der geschichtliche Rückblick das Befreiungselement auf vielfache Weise in der europäischen Kulturgeschichte ausfindig macht und beschreibt: in der Renaissance ebenso wie beim Epochenumbruch 1760 bis 1830, in der französischen Revolution 1789 ebenso wie bei der Pariser Commune 1871. All dies zwischen zwei Buchdeckeln versammelt, verleiht dem Buch auch den Charakter eines Experiments.
Ein wichtiger Wegbegleiter in finsterer Zeit
Der Band versammelt unterschiedliche Formen der Reflexion und des Schreibens: Werkinterpretationen, literatur- und kunsthistorische Skizzen, Kulturkritik, ästhetische Theorie, philosophische Betrachtungen und Analysen, politische Theorie und nicht zuletzt auch Textformen an der Grenze zum Reisebericht und zum poetischen Ausdruck. Das Ganze ist weder eine streng systematische, in sich abgeschlossene Abhandlung, noch eine bloße Sammlung selbstständiger Essays. Metscher erläutert seine Vorgehensweise im Vorwort wie folgt:
„Die offene Gestalt, in der die verschiedenen Formen des Gedankens hier zusammengefügt sind, soll möglich machen, was ich für ein Denken in Marxscher Tradition heute fordere und als Ziel eigenen Schreibens ansehe: die Entwicklung eines experimentellen Denkens, in dem die Konventionen wissenschaftlichen Schreibens, ja die festgelegten Grenzen geistiger Arbeitsteilung überschritten werden.“
Metschers experimentelles Programm weist zusätzlich eine meditative Dimension auf in dem Sinn, dass der Autor sich einlässt auf Fremdes und Unvertrautes. Er verfolgt Wege, die in verschiedene Richtungen führen: in Raum-Richtungen und – wie schon angedeutet – in Zeit-Richtungen. Letztere gehen von der Gegenwart aus, reichen in die Vergangenheit zurück und suchen von da aus Perspektiven in die Zukunft, entwerfen Zukunftslinien einer neuen Gesellschaft.
Meine Hinweise lassen ahnen, dass die Lektüre der „Pariser Meditationen“ einem Abenteuer gleichkommt – einem Abenteuer freilich, das im Unbekannten das Bekannte entdeckt, in der finsteren Nacht die Sterne, in der scheinbaren Ausweglosigkeit die begründete Hoffnung, angesichts von Unterdrückung und Ausbeutung die Befreiung. So gesehen ist das Buch ein Wegbegleiter in „finsterer Zeit“ (Bert Brecht), ein Vademecum, das herausführt aus dem gesellschaftlichen Niedergang im Kapitalismus und einführt in eine andere Welt – eine Welt aus philosophischer Erleuchtung, ästhetisch-kultureller Erkenntnis und politischem Handeln.
Eine Lektüre, die einen geduldigen Zugang verlangt.
Gegliedert ist der Band in zehn Teile. Der erste Teil führt aus der Erfahrung der Gegenwart beim Besuch von Paris, der „Stadt der Revolutionen“, zurück zum Projekt der Revolution als eines „herrlichen Sonnenaufgangs der Freiheit“ – angedeutet beim deutschen Philosophen Hegel, dem deutschen Schriftsteller Johann Gottfried Herder, Robert Burns, einem dichtenden schottischen Bauern jakobinischer Gesinnung, dem englischen Poeten William Wordsworth und dem „Fidelio“-Komponisten Beethoven. Im zweiten Teil entwickelt Metscher, ausgehend von der „Ästhetik des Widerstands“ bei Peter Weiss, die Annäherung an sein Verständnis einer marxistischen Ästhetik der Befreiung.
Die Teile III und IV untersuchen das revolutionäre Element der Künste im Zeitalter des Epochenumbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert. Metscher erschließt hierbei vielfältige Zugänge, die Goethes „Faust“ ebenso umfassen wie die Werke von Hölderlin, Schiller, Beethoven und Mozart. Auch hier kann der Rezensent nur andeuten, dass es Metscher auf überzeugende und bewundernswerte Weise gelingt, die bildungsbürgerliche Nussschale der erwähnten Werke aufzubrechen und ihren epochalen Kern freizulegen. Er macht auf eindrucksvolle Weise erlebbar, welch gewaltige gesellschaftliche Umbruchsdynamik sich in den von ihm erwähnten Kunstwerken angesammelt hat.
Wieder ist es Goethes „Faust“, an dem Metscher im fünften Teil die umwälzenden Wege in die Moderne aufzeigt. Andere Belege des aus der Gewalt, dem Schrecken und der Enttäuschung entspringenden Aufbruchs jener Zeit findet er in den Bildern Goyas, in der Prosa E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls sowie in der Lyrik des Ungarn Sandor Petöfi und des Chilenen Pablo Neruda. Es folgt ein siebter Teil, wo Metscher (der philosophische Bergsteiger!) in Bildern der Landschaft einerseits einen kulturellen Ort und Spiegel der Seele erkennt, andererseits eine konkrete Utopie, wie sie in der Sehnsuchtsdichtung von Eichendorff, Heinrich Heine und Jura Soyfer aufscheint.
Teil VII widmet sich in systematischer Weise der ästhetischen Erkenntnisweise und der Dialektik, ausgehend von Lenins „Konspekt zu Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“. Dabei entwickelt Metscher auf beispielhafte Weise einen Kerngedanken seines theoretischen Konzepts: die Gleichwertigkeit und den inneren Zusammenhang philosophischer und ästhetischer Erkenntnis. Aspekte des Entwurfs einer Theorie der Gegenwart entwirft der Autor im achten Teil, wo seine Gedanken um das Schicksal des Marxismus kreisen. Angesichts des katastrophalen Zusammenbruchs der sozialistisch genannten Gesellschaften Ende der 1980er Jahre wagt und leistet er eine tragfähige Rekonstruktion des Marxschen Denkens im Sinne einer Theorie der Befreiung. Metschers sowohl diskussionswürdiger als auch ermutigender Theorieansatz findet eine poetisch-subjektive Ergänzung im neunten Teil. Ihm folgt in Teil X eine meditativ reflektierende Rückkehr zum ersten Teil des Bandes: zurück nach Paris auf den Friedhof Père Lachaise, wo die Toten der Commune ruhen.
Meine sehr knappe Skizzierung des Inhalts von Metschers Buch vermag der ihm zahlreich zu wünschenden Leserschaft lediglich bescheidene Anhaltspunkte für die Lektüre an die Hand zu geben. Die Erschließung des Bandes bei seiner Lektüre erfordert es allerdings nicht, die zehn Teile der Reihe nach hintereinander und Stück für Stück abzuarbeiten. Die einzelnen Teile sind so verfasst, dass sie auch separat gelesen und verstanden werden können. Unabhängig davon, welcher Teil des Buches das Leseinteresse weckt, erschließen sich je nach persönlichem Zugang und persönlicher Schwerpunktsetzung die Gedankenführungen Metschers und seine immense Kenntnis von Literatur, Kunst und Philosophie Schritt für Schritt.
Das Buch bereichert auf anschauliche, erhellende und beglückende Weise – nicht zuletzt auch, weil Thomas Metscher den Marxismus neu entdeckt und unorthodox wiederbelebt als materialistische Befreiungserkenntnis und dialektische Durchdringung der Widerspruchsstruktur historischer Prozesse. Eine kleine Warnung zum Schluss: Die einzelnen Teile erfordern bei der Lektüre ein je unterschiedliches – manchmal gewöhnliches, manchmal gesteigertes – Maß an Beharrlichkeit, selbstständigem (Mit-)Denken und Geduld. Doch wir wissen ja: „Geduld ist die Tugend der Revolutionäre“ (Rosa Luxemburg), auch und nicht zuletzt beim Lesen und Verstehen von Texten, welche von den Problemen historischer Emanzipationsprozesse und dem Versprechen der Freiheit handeln.