Vor 100 Jahren, am 4. Mai 1919, wollten 3 000 Studenten vom Tor des Himmlischen Friedens in Richtung der ausländischen Gesandtschaften in Peking demonstrieren. Soldaten der Großmächte und chinesische Polizei hinderten sie daran, die Studenten zogen zum Haus eines pro-japanischen Politikers und zündeten es an. Sie begannen damit eine Massenbewegung, die China verändern würde und die zeigte, wie sehr es sich bereits verändert hatte. Die 4.-Mai-Bewegung steht für einen Umbruch der chinesischen Kultur und für den Beginn einer neuen Etappe der chinesischen Revolution.
„Mister Science“ und „Mister Democracy“ nannten die Intellektuellen, die nach Wegen zur Erneuerung Chinas suchten, ihre Hoffnung – sie orientierten sich am Wissen und den Ideen des Westens. Und sie hofften darauf, dass der US-Präsident Woodrow Wilson in den Friedensverhandlungen von Versailles seine Versprechen war machen würde und nun, nach dem Ersten Weltkrieg, die ehemals deutschen Kolonien in China an China fallen würden.
Die Siegermächte gaben die deutschen Kolonien im Vertrag von Versailles an Japan, das dabei war, als imperialistische Macht in Ostasien aufzusteigen. Die Pekinger Regierung hatte dem nichts entgegenzusetzen: Sie war nur die Regierung einer der Cliquen von Militaristen und Bürokraten, die den Verfall der alten Ordnung – der Kaiser hatte nach der bürgerlichen Revolution von 1911 abdanken müssen – ausnutzten, um ihre regionale Macht auszuweiten. Parasitäre Warlords, feudale Rückständigkeit, imperialistische Unterdrückung: In der 4.-Mai-Bewegung erkannten die intellektuellen Führer, wie tief eine Umwälzung greifen musste, um ein neues China zu erschaffen.
20 Jahre zuvor hatte die letzte antiimperialistische Massenbewegung, die Boxer, Geister beschworen, um unverwundbar von den Gewehrkugeln der ausländischen Teufel zu sein. Nun entstand, verbunden mit der Bewegung für eine neue Kultur, nicht nur eine neue Bewegung – sondern auch eine für China neue Form, Politik zu machen: Flugblätter, Spruchbänder, öffentliche Reden – 400 neue Zeitschriften entstanden in diesen Jahren. Die führende Zeitschrift des 4. Mai, „Neue Jugend“ (La Jeunesse, Xin Qingnian), leitete Chen Duxiu, der 1921 zum ersten Generalsekretär der kommunistischen Partei gewählt werden sollte.
Marx und Engels hatten die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus nur ausarbeiten können, weil die Arbeiterklasse in mehreren europäischen Ländern sich nicht nur als leidende, sondern bereits als kämpfende Kraft gezeigt hatte. In der 4.-Mai-Bewegung bildeten nicht nur Studenten, patriotische Geschäftsleute und Frauen regionale und landesweite Organisationen, sondern auch die Arbeiterklasse. Der Erste Weltkrieg hatte die Entwicklung der chinesischen Industrie gefördert, weil die ausländische Konkurrenz geschwächt war. Nun, ab Juni 1919, kamen die Arbeiter aus den neuen Fabriken auf die Straße und streikten – etwa 60000 von ihnen in Shanghai, wohin sich der Schwerpunkt der Bewegung verlagerte, 100000 im ganzen Land. Eine kleine Zahl – aber damit „betrat die chinesische Arbeiterklasse erstmals als unabhängige politische Kraft die Bühne der Geschichte“, heißt es in der offiziellen „Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas“. Die fortschrittlichen Intellektuellen Chinas erlebten praktisch die Kraft der Arbeiterklasse. Neben der russischen Oktoberrevolution und der antiimperialistischen Haltung der Sowjetregierung war das die zweite Voraussetzung dafür, dass sie begannen, sich den Marxismus anzueignen. Der Bibliothekar der Peking-Universität, Li Dazhao, hatte 1918 den ersten marxistischen Zirkel gegründet, an dessen Treffen auch Mao Zedong teilnahm. Im Herbst 1919 sollte Li in der „Neuen Jugend“ seinen Aufsatz „Meine marxistischen Auffassungen“ veröffentlichen. In ganz China bildeten sich sozialistische Zirkel und Studiengruppen. Aus ihnen gingen die Kader hervor, die nur zwei Jahre später die Kommunistische Partei Chinas gründen würden. Damit entstand der Kern der Bewegung, die in den folgenden 30 Jahren, in einem Krieg und drei Bürgerkriegen, ein neues China erkämpfen sollte.
So begann 1919 eine neue Etappe der chinesischen Geschichte, die Mao Zedong später als „Neudemokratische Revolution“ bezeichnen würde. In der Schrift „Die chinesische Revolution und die Kommunistische Partei Chinas“ schrieb er 20 Jahre später: „Das gegenwärtige Stadium der Revolution in China ist ein Übergangsstadium zwischen der Beendigung der kolonialen, halbkolonialen und halbfeudalen Gesellschaft und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft; das ist der Prozess der neudemokratischen Revolution. Dieser Prozess (fing) mit der Bewegung des 4. Mai im Jahre 1919 an.“
Im Rückblick sehen wir in der 4.-Mai-Bewegung die Keime der Merkmale, die die chinesische Revolution bis zu ihrem Sieg 1949 prägen sollten: Eine Revolution unter der Führung der Arbeiterklasse, mit der Kommunistischen Partei als führender politischer Kraft, eng verbunden mit der Sowjetunion und der kommunistischen Weltbewegung. Eine Revolution, die von einem Bündnis mehrerer Klassen getragen wurde – zur Hauptkraft sollten die Bauern werden. Zu Beginn dieser Etappe fanden die fortschrittlichsten Aktivisten zu sozialistischen Ideen – an ihrem Ende errichtete das riesige, rückständige Land eine sozialistische Gesellschaft.