Pforzheimer Abkommen
Das „Pforzheimer Abkommen“ wurde 2004 zwischen der IG Metall Baden-Württemberg und Südwestmetall geschlossen. Es erlaubt Unternehmen, von Tarifverträgen befristet abzuweichen.
Nachdem die Gewerkschaften und die Kapitalseite gemeinsam mit Betriebsrat und Geschäftsleitung die wirtschaftliche Lage geprüft haben, können sie für den jeweiligen Betrieb beschließen, dass er befristet von tariflichen Mindeststandards abweichen kann. Zum Beispiel: Weihnachts- oder Urlaubsgeld kürzen, Arbeitszeit senken oder erhöhen – mit oder ohne Lohnausgleich.
Ein Vertreter des regionalen Arbeitgeberverbandes und – in der Regel – die zuständige Verwaltungsstelle der IG Metall werden mit den Verhandlungen beauftragt. Das Unternehmen legt dazu Informationen zur wirtschaftlichen Lage vor, um nachzuweisen, dass die Abweichung „notwendig“ ist.
Der abweichende Vertrag muss Gegenleistungen enthalten. Das können „Standortgarantien“ oder „Investitionszusagen“ sein. Die vereinbarten Abweichungen vom Tarifvertrag sind zeitlich befristet.
Gibt es beim Erscheinen dieser UZ bereits einen Tarifabschluss für die Metall-und Elektroindustrie? Oder stehen wir vor einer weiteren Eskalation des Konflikts, die den Metallerinnen und Metallern erstmals seit 2003 mehr abfordert als die „üblichen“ zwei Warnstreikwellen?
Im Vorfeld der vierten Verhandlungsrunde in NRW, Baden-Württemberg, Bayern und Mitte hatten beide Tarifparteien betont, dass sie eine Einigung vor Pfingsten anstreben. Am Montag war dann nach mehrstündigen Verhandlungen in Neuss die Rede von „konstruktiven und intensiven“ Gesprächen. Bis zum Redaktionsschluss dieser UZ gab es allerdings kein neues Angebot der Kapitalseite.
Schon bevor die IG Metall-Mitglieder in den Betrieben und Tarifkommissionen begonnen hatten, ihre Forderungen für die Tarifrunde 2016 zu diskutieren, warnten Gesamtmetall-Vertreter vor einer Wiederholung solcher „Höhenflüge“ wie dem aus ihrer Sicht „überzogenen“ Tarifabschluss 2015 (3,4 Prozent, Alters- und Bildungsteilzeit). Tatsächlich hatte die IG Metall in der letzten Tarifrunde mit massiven Warnstreiks (fast 900 000 Beteiligte) einen Tarifabschluss durchgesetzt, der bei der Masse der Beschäftigten gut ankam.
Allerdings waren die Jahre vor und während der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise für die Beschäftigten ein „verlorenes Jahrzehnt“ mit stagnierenden Reallöhnen und einer sinkenden Lohnquote. Um dies wieder auszugleichen, müssten über mehrere Jahre Tariferhöhungen durchgesetzt werden, welche den „verteilungsneutralen Spielraum“ aus Inflation und Produktivität deutlich überschreiten. Dies will Gesamtmetall mit aller Macht verhindern und erklärte für 2016, zu verteilen sei „wenig bis gar nichts“.
„Wenig bis gar nichts“ waren dann auch die „Angebote“ der Metallunternehmer. Nachdem sie in der zweiten Verhandlungsrunde 0,9 Prozent für zwölf Monate sowie eine (nicht tabellenwirksame) Einmalzahlung von 0,3 Prozent angeboten hatten, legten sie in der dritten Verhandlungsrunde kein höheres, sondern ein „Alternativangebot“ vor: weitere 1,2 Prozent – für weitere zwölf Monate! Die Einmalzahlung sollte aber jetzt nicht mehr für alle Betriebe gelten, sondern einzelbetrieblich „differenziert“ werden.
Diese „Angebote“ wirkten als Provokation und überzeugten auch vorher nicht so überzeugte Beschäftigte von der Notwendigkeit der Warnstreiks. Dies habe ich nicht nur in der „eigenen“ Belegschaft bei Volkswagen Osnabrück so erlebt, sondern auch aus vielen anderen Betrieben gehört – auch aus solchen, in denen noch kurz vor Ende der Friedenspflicht die Tarifrunde nur ein zweitrangiges Thema war, weil sie von betrieblichen Problemen überdeckt wurde.
Bis Montag hatten sich bundesweit rund 393 000 Metallerinnen und Metaller an Warnstreiks beteiligt. Viele haben verstanden: Bewegung in den Betrieben ist der einzige Weg, um die Bewegung im Unternehmerlager zu erreichen, welche für einen aus Sicht der Beschäftigten akzeptablen Kompromiss zwischen den geforderten fünf Prozent und den bisherigen „Angeboten“ notwendig wäre.
Doch nicht nur die Bereitschaft zu Warnstreiks ist hoch. Als Reaktion auf die provozierenden „Angebote“ findet auch das neue Arbeitskampfkonzept der IG Metall, bei Nichteinigung nach zwei Warnstreikwellen bundesweit in ausgewählten Betrieben zu ganztägigen Streiks aufzurufen, wachsende Zustimmung bei den Beschäftigten.
Eine besondere Rolle spielt in dieser Tarifauseinandersetzung wieder einmal die Forderung der Kapitalseite nach mehr „Differenzierung“: Unter bestimmten Umständen sollen wirtschaftlich schwächere Unternehmen auch von dem Abschluss abweichen können. Ihr Verhandlungsführer in NRW, Kirchhoff, hatte angekündigt, bei den Verhandlungen in Neuss dieses Thema schwerpunktmäßig behandeln zu wollen.
Angesichts der schlechten Erfahrungen mit Differenzierungsklauseln in früheren Tarifabschlüssen trifft diese Forderung bei vielen Beschäftigten und ihren Betriebsräten gerade in den potentiell betroffenen Betrieben auf starke Ablehnung. Zudem bestehen bereits mit dem „Pforzheimer Abkommen“ (siehe Infokasten) Möglichkeiten zu Tarifabweichungen nach unten.
Doch die Gesamtmetall-Vertreter drohen unverhohlen mit zunehmender Tarifflucht, wenn es nicht zu einem „moderaten“ Abschluss mit stärkerer Differenzierung kommt. In diesen Drohungen steckt eine deutliche Botschaft an die Belegschaften in nicht so gut organisierten Betrieben. In der Vergangenheit konnten auch diese Belegschaften im „Geleitzug“ mit den gewerkschaftlichen „Vorreiterbetrieben“ fahren. Im Zeichen sinkender Tarifbindung und zunehmender Tarifabweichungen hat sich dies geändert: schwach organisierte Belegschaften werden zunehmend „abgehängt“ – nur gut organisierte und streikfähige Belegschaften können im Ernstfall auch Tarifflucht abwehren. Je mehr die Unternehmer befürchten müssen, einen „Häuserkampf“ zu verlieren, desto sicherer ist der Flächentarif.