Am 27. Februar 2019 jährte sich der Todestag des österreichischen Zoologen und Ethologen Konrad Lorenz zum dreißigsten Mal. Er war der Gründervater der „Tierpsychologie“, wie er es selbst nannte, und Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltenspsychologie. 1973 erhielt er zusammen mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen („für ihre Entdeckungen betreffend den Aufbau und die Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern“) den Nobelpreis für „Physiologie oder Medizin“. Wir erinnern uns alle an die alten Filmdokumentationen, in denen Lorenz in einem Teich als flügellose Mama einen Schwarm kleiner Graugänse hinter sich herzieht. Seine Verhaltensforschung an Tieren ergab, dass das erste Wesen, das ein aus dem Ei geschlüpftes Tier entdeckt, zum Erziehungsberechtigten für dieses wird. Das Gänseküken hat keine transzendentale Vorstellung vom Aussehen seiner Graugansmutter und wundert sich somit nicht darüber, dass es von einem graumelierten Rauschebart erzogen wird.
Konrad Lorenz hatte zunächst 1928 in Medizin promoviert, fünf Jahre später noch den Dr. phil. in Zoologie gemacht und 1936 schließlich habilitiert. Seine vergleichende Verhaltensforschung, die Ethologie, war in Österreich nicht wohlgelitten, da dort seinerzeit „aus Gründen der Weltanschauung der herrschenden Kreise die Biologie eher unerwünscht“ war „und ganz besonders die Richtung, in der Lorenz so trefflich arbeitet“. Das damit verbundene Verbot, in Wien Verhaltensforschung zu betreiben, bewog Lorenz dazu, im Ausland bei der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft – heute Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – die Finanzierung seiner Studien über angeborene Bewegungen bei Entenvögeln zu beantragen. Dies wurde mit der Begründung abgelehnt, dass „vor allem die politische Gesinnung und die Abstammung von Herrn Dr. Konrad Lorenz in Frage gestellt“ wurde. Es war somit unklar, ob Lorenz für diese Tätigkeit arisch genug sei.
Wenige Monate später reichte er erneut einen Antrag auf Projektförderung in Deutschland ein. Der Botaniker Fritz von Wettstein bescheinigte Lorenz nunmehr ausdrücklich, dieser habe „aus seiner Zustimmung zum Nationalsozialismus keinen Hehl gemacht“, auch seine arische Abstammung sei in Ordnung. Konkret forschte Lorenz ab 1938 über Störungen des Instinktverhaltens durch Domestikation an Wildgänsen und Kreuzungen von Wildgans und Hausgans, um die Forschungsergebnisse auf den Menschen zu übertragen und somit dem NS-Biologismus gerecht zu werden. Seine Begeisterung für den Führerstaat bewog den Österreicher, direkt nach der Annexion seiner Heimat durch die deutschen Faschisten 1938 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP zu stellen. In diesem Antrag rühmt er sich, „sozialistischen Studenten die biologische Unmöglichkeit des Marxismus zu beweisen und sie zum Nationalsozialismus zu bekehren“. Seine „ganze wissenschaftliche Lebensarbeit, in der stammesgeschichtliche, rassenkundliche und sozialpsychologische Fragen im Vordergrund stehen, [steht] im Dienste nationalsozialistischen Denkens […]“ Später leugnete er, jemals Parteimitglied gewesen zu sein.
Wie ernst es Lorenz mit seiner Wissenschaft war, zeigte sich in seiner Zeit als Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Er entwickelte die – angenommene – Notwendigkeit, „bestimmte, durch den Mangel einer natürlichen Auslese entstehende Verfallserscheinungen an Volk und Menschheit rechtzeitig“ bekämpfen zu müssen. Er spricht wörtlich von der „Ausmerzung ethisch Minderwertiger“, „Nebenmenschen“, „Ausfallsmutanten“, welche der „Volksarzt“ „aus dem gesunden Volkskörper schneiden“ müsse, da die natürliche Auslese „in künstlichen Situationen verhindert sei“ (Konrad Lorenz: „Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens“, 1940). Diese „künstlichen Situationen“ betreffen die „Domestikation“, die „Verhausschweinung“ des Menschen, wie er es 1943 nennt. Seine Forderungen sind überdeutlich: „Versagt diese Auslese, misslingt die Ausmerzung der mit Ausfällen behafteten Elemente, so durchdringen diese den Volkskörper in biologisch ganz analoger Weise und aus ebenso analogen Ursachen wie die Zellen einer bösartigen Geschwulst […] Sollte es mutationsbegünstigende Faktoren geben, so läge in ihrem Erkennen und Ausschalten die wichtigste Aufgabe des Rassenpflegers überhaupt“. Sei die natürliche Auslese nicht konsequent genug, müsse sich der „Rassenpfleger“ selbst um die Ausmerzung kümmern, schreibt Lorenz 1940 in einem anderen Aufsatz. In den „angeborenen Formen möglicher Erfahrung“ führt er 1943 aus: „Die Verfallstypen durchsetzen Volk und Staat dank ihrer größeren Vermehrungsquote und ihren vergröberten Wettbewerbsmethoden dem Artgenossen gegenüber in kürzester Zeit und bringen beiden aus analogen biologischen Gründen den Untergang, aus denen die ebenfalls asozialen Zellen einer Krebsgeschwulst das Gefüge des Zellstaates zugrunde richten.“
Von der Theorie in die Praxis als Zuarbeiter des NS-Euthanasieprogramms. Als Militärarzt und Heerespsychologe in Posen nahm Konrad Lorenz in einem Lazarett an einer „Studie“ teil, deren Zweck es war, Menschen im „Reichsgau Wartheland“ nach Herrenmenschen, die dort weiterhin ansässig bleiben durften, und nach als „erbbiologisch minderwertig“ geltenden Menschen, die schließlich in Konzentrationslager verbracht wurden, aufzuteilen.
Das weitestgehende Ausbleiben einer Entnazifizierung auch in Österreich ließ Lorenz seine Karriere als Verhaltenswissenschaftler bündig fortsetzen. Er kam 1948 aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurück, veröffentlichte 1949 sein beliebtes Werk „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“. 1950 holten ihn seine Rassentheorien dann doch ein Stück weit ein, als ihm eine Professur in Graz verweigert wurde. Dafür wurde er 1953 Honorarprofessor an der Universität Münster und 1961 bis 1973 Direktor des neu errichteten Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Eßsee, später Seewiesen.
1973 erschien sein philosophisches Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels“, in dem Jahr, in dem ihn die Kritik an der Verleihung des Nobelpreises mit seinen Schriften aus der NS-Zeit konfrontierte. Er berief sich darauf, lediglich den im Dritten Reich üblichen Jargon angewandt zu haben. Der bestialische Inhalt wurde jedoch bis zu seinem Lebensende in ein wenig moderaterer Sprache fortgeführt. So unterschied er in einem Interview unermüdlich zwischen Menschen „mit ethischen Verfallserscheinungen“ und „vollwertigen, anständigen“ Menschen. In den „acht Todsünden“ der zivilisierten Menschheit vergleicht er 30 Jahre später die ihm missliebigen Subjekte mit dem Wuchern „asozialer Krebszellen“. So wird „ein Mensch, der durch das Ausbleiben der Reifung sozialer Verhaltensnormen in einem infantilen Zustand verbleibt, […] notwendigerweise zum Parasiten“. Lorenz verzichtet lediglich inzwischen auf den Anspruch, solche Menschen mit „genetischen Verfallserscheinungen“ „ausmerzen“ zu wollen. Mit dem Begriff des „Ausmerzens“ Mord in Verbindung zu bringen, war ihm damals nicht in den Sinn gekommen, wie er später beteuerte.
Diese Theorien erklären für ihn auch auf einfache Weise die 68er-Studentenbewegung als Folge „genetischen Verfalls“. Die sich selbst herstellende und erhaltende Natur war offensichtlich nicht befähigt, diese degenerierte Generation auszulesen, um das „Abreißen der Tradition“ – wohl die, der Lorenz entstammte – zu verhindern. Mit dieser Argumentation würde er heute wahrscheinlich auch die französischen „Gelbwesten“ zur Überprüfung ihrer vererbten Degeneration in Genlabors schicken.
Die Übertragung der Domestikation von Nutztieren auf die menschliche Zivilisation entwickelte sich bei Konrad Lorenz letztlich zu einer Kulturkritik und schließlich zu einer Verfallsprognose der Gesellschaft. Die Ursache dieses Verfalls liegt nach Lorenz in Vererbungsfehlern, nicht etwa in sozialen Entwicklungen unter völkerrechtswidrigen Herrschaftsverhältnissen. So hat auch Jugendkriminalität nichts mit sozialen Unterschieden in der Klassengesellschaft und damit verbundener Notwehr gegen die Produzenten der Armut zu tun. „Auch in der modernen Kriminologie wird die Frage gestellt, welche Anteile kriminellen Verhaltens auf genetischen Ausfällen von angeborenen sozialen Verhaltensweisen und Hemmungen beruhen und welche aus Störungen in der kulturellen Überlieferung sozialer Normen zu erklären sind“, schreibt er in den „acht Todsünden“. Letztlich ist die Hauptaufgabe, den Schaden ausschließlich im Subjekt zu suchen und die Abgedrifteten wieder in die vulgären Klassenverhältnisse zu integrieren. „Bei der Beurteilung eines Kriminellen ist die Frage, ob sein Defekt genetisch oder erziehungsmäßig bedingt sei, sehr wesentlich für die Aussichten, ihn wieder zum tragbaren Mitglied der Gesellschaft zu machen.“ Die Jungkriminellen sind also schlecht erzogen oder haben lediglich geschädigte Gene und müssen irgendwie daran gehindert werden, sich ungebremst fortzupflanzen, was ausschließlich den „ethischen Menschen“ vorbehalten bleibt, wie er uns 1988 wissen lässt. Die Überbevölkerung lässt Lorenz „eine gewisse Sympathie für Aids“ empfinden.
Abgesehen von der zunehmend verderbenden Zivilisation lag Konrad Lorenz die Zukunft der Erde am Herzen. Er verschrieb sich dem Umweltschutz, glänzte 1978 im Rahmen einer Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf und wurde 1985 Namensgeber des Konrad-Lorenz-Volksbegehrens gegen die Zerstörung eines Landschaftsschutzgebietes durch den Bau eines Wasserkraftwerks. „Wozu dient der Menschheit ihre maßlose Vermehrung, ihre bis zum Wahnsinn sich steigernde Hast des Wettbewerbs, die zunehmende, immer schrecklicher werdende Bewaffnung, die fortschreitende Verweichlichung des verstädterten Menschen […]“, fragt er den Leser, um dann doch wieder auf die alte Losung zu kommen, „dass so gut wie alle diese Fehlleistungen Störungen ganz bestimmter, ursprünglich sehr wohl einen Arterhaltungswert entwickelnder Verhaltens-Mechanismen sind. Mit anderen Worten, sie sind als pathologisch aufzufassen“. Dennoch erkennt er vorausschauend einige Prozesse, die heute zunehmend realer werden: „Indem die zivilisierte Menschheit die lebende Natur, die sie umgibt und erhält, in blinder und vandalischer Weise verwüstet, bedroht sie sich mit ökologischem Ruin. Wenn sie diesen erst einmal ökonomisch zu fühlen bekommt, wird sie ihre Fehler vielleicht erkennen, aber sehr wahrscheinlich wird es dann zu spät sein.“ Lorenz sieht schließlich die verderbliche Ursache im Kapitalismus: „Die Luxusbildungen, die als Folge des Teufelskreises einer rückgekoppelten Produktions- und Bedürfnissteigerung auftreten, werden den westlichen Ländern, vor allem den USA, früher oder später dadurch zum Verderben werden, dass ihre Bevölkerung gegen die weniger verwöhnte und gesündere der östlichen Länder nicht mehr konkurrenzfähig sein wird.“
Bedauerlich ist, dass Lorenz‘ Schüler wie Prof. Dr. Irenäus Eibl-Eibesfeldt oder Rupert Riedl in Fernsehgesprächsrunden keinen Grund sehen, Anstoß an Lorenz‘ biologistischer Kulturkritik zu nehmen. Lorenz sagt richtige Dinge aus falschen Ursachen. Biowissenschaftler der DDR haben sich hingegen reflektierter mit diesen Theorien befasst. So merkt Alexander Wernecke an, dass Lorenz‘ Reduktion einer falschen Entwicklung der Menschheit darauf hinausläuft, „den gesamten gegenwärtigen Imperialismus, seine Klassenstrukturen, seinen räuberischen, parasitären, brutalen, menschenfeindlichen Charakter und die entsprechenden Praxiserscheinungen als die Folge der vom Tier ererbten Instinkte und Triebe hinzustellen“. Verhaltensforschung, die soziale Bedingungen gänzlich ausschließt, führt in eine einseitige Betrachtungsweise. „Widersprüche und Verfallserscheinungen, ‚genetische Grundlagen des Menschen‘, ‚moralischer Verfall‘, ‚Brutalisierung und Kriminalisierung der Gesellschaft‘, der mörderische Kampf aller gegen alle […] sind nicht, wie Lorenz glaubt, biogenetisch determiniert, sondern eine Konsequenz des Kapitalismus“, so Wernecke weiter (Alfons Schnase: „Evolutionäre Erkenntnistheorie und biologische Kulturtheorie. Konrad Lorenz unter Ideologieverdacht“, Würzburg 2005). Letztlich führt Lorenz‘ affirmative Kapitalismuskritik in den Fatalismus unveränderbarer Naturgesetzlichkeiten, Ausbeutung und Krieg stecken ursächlich im Genom. Konrad Lorenz hat sicherlich viel für die Verhaltensforschung im Tierreich geleistet. Nur zeigt es sich immer wieder, dass eine einmal gefundene und preisgekrönte Theorie zur Welterklärung verabsolutiert wird. Somit kann Wissenschaft großen Schaden anrichten, wenn das Verhalten von Graugänsen zur Berechtigung der Ausmerzung „lebensunwerten Lebens“ wird. Würdigen wir also den Tierpsychologen und bekämpfen wir den Rassentheoretiker.