Was uns die Erfahrungen der Arbeiter- und Soldatenräte von vor 100 Jahren und die Aufgaben der kommunistischen Partei

Von der Bewegung zur Gegenmacht

Von Hans-Peter Brenner

Die Vergangenheit hat sich mit Fragen an uns zurückgemeldet. Die überraschend zahlreichen Veranstaltungen zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution haben besonders eine Frage aufgeworfen: In welcher Beziehung stehen spontane Massenbewegungen, das damals entstandene Rätesystem, und die organisierten „Abteilungen“ der sozialistisch orientierten Linken?

Die Gegenwart wirft ähnliche Fragen auf. Die Massenaktionen der französischen Gelbwesten haben sich mit solcher Urgewalt ausgebreitet, dass sie die Mini-Ausgabe des absolutistischen Feudalherrschers Louis XIV., den Präsidenten Emmanuel Macron, ins Straucheln gebracht haben. Die Stärke dieser Bewegung bringt für den Moment das abgedroschene und gleichzeitig modische Gerede von der „verschwundenen“ oder zumindest zur wirkungsvollen Aktion nicht fähigen Arbeiterklasse innerhalb der politischen Linken zum Verstummen. Versickern die Impulse dieser Bewegung oder entsteht etwas Neues? Gelingt es, die Kluft zwischen diesen spontanen und zumeist nur lokal sich strukturierenden Aktivistengruppen und den dauerhaft organisierten Linkskräften und Gewerkschaften zu schließen? Bei diesen Fragen geht es vor allem um eines: Die Präsenz und Stärkung der real existierenden kommunistischen Partei und ihre Verankerung in der Arbeiterklasse. Für uns als politische Erben der deutschen Novemberrevolution bleiben dabei die alten Erfahrungen unserer Gründermütter und -väter eine bedeutsame Lehre.

Die Form der Macht

Die Rätebewegung war eine Antwort auf die noch bewussten Erfahrungen der Pariser Commune von 1871 sowie der Aufstände des Pariser Proletariats von Februar und Juli 1848. Sie hatten gelehrt, dass man eine sozialistische Revolution nicht mit Hilfe des alten bürgerlichen Staatsapparates durchführen kann, sondern dass dazu neue revolutionäre Machtorgane nötig sind.

Nicht umsonst wies Lenin in seiner wichtigen Arbeit „Staat und Revolution“ auf eine Bemerkung von Marx in einem Brief an seinen Vertrauten Ludwig Kugelmann zu diesen zentralen Erfahrungen der französischen Arbeiterbewegung hin. Darin erinnerte Marx daran, dass er schon zwei Jahrzehnte vor der Pariser Commune die Erwartung ausgesprochen hatte, dass es „als nächsten Versuch der französischen Revolution“ dazu kommen müsse, „nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“, weil dies „die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent“ sei.

Diese Erwartung sei, so Lenin, mit der Form der „Commune“ und später in Russland mit der Entstehung des Rätesystems in Erfüllung gegangen. Dies sei und bleibe für die marxistische Revolutions- und Staatstheorie eine zentrale Lehre.

Die Räte-Thematik ist also einer übergeordneten Fragestellung zuzuordnen, nämlich: Wie ist es möglich, eine einmal entstandene Bereitschaft zur Konfrontation mit den Interessen der Herrschenden in eine dauerhafte organisatorische Form zu transportieren? Wie gelingt es, die Auseinandersetzung mit den Mächtigen so weit zu entwickeln und zuzuspitzen, dass dabei nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit des politischen Sturzes der Herrschenden heranreift, sondern auch Formen der revolutionären „Gegenmacht“ entstehen?

Aus dem Ziel folgt der Weg

In der revolutionären Bewegung entstand die zunächst spontane Selbstorganisation der aufständischen Soldaten und Arbeiter in Form der Räte. Rosa Luxemburg hatte jedoch schon nach einer Woche registriert und verstanden, wie fragil und anfällig aber dieses System der Arbeiter-und-Soldaten-Räte für politischen Missbrauch und ein Arrangement mit den Mächtigen war.

Unter dem Eindruck der politischen Kastrierung des Rätegedankens durch die rechte Mehrheitssozialdemokratie, aber auch durch die zentristische Führung der damaligen linken USPD stellte sie die dialektische Einheit von revolutionärem Inhalt und organisatorischer Form der sich entwickelnden deutschen Revolution in das Zentrum ihrer politischen und publizistischen Überzeugungsarbeit. Bereits eine Woche nach dem Ausbruch der Revolution schrieb sie am 18.11.1918 in der „Roten Fahne“, der Zeitung des „Spartakusbundes“: „Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung: dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.

Aus dem Ziel der Revolution ergibt sich klar ihr Weg, aus der Aufgabe ergibt sich die Methode. Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter-und-Soldaten-Räte, Sicherung des Revolutionswerks vor ihren lauernden Feinden: dies die Richtlinie für alle Maßnahmen der revolutionären Regierung.

Jeder Schritt, jede Tat der Regierung müsste wie ein Kompass in diese Richtung weisen: Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und-Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entstehung durch bewussten Prozess der Selbstverständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird (Herv. d. Verf.); ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere des A-und-S-Rates; schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revolution als ihre Schutzwehr und ihre Stoßkraft zu stellen.“

Unbeantwortet oder nicht berücksichtigt war jedoch in diesem so bedeutsamen Artikel die Rolle der politisch bewusstesten Kräfte innerhalb des Rätesystems. Die von Rosa Luxemburg beschworene „höchste geistige Reife“ und der „unerschöpfliche Idealismus der Volksmassen“ hätten schon zum damaligen Zeitpunkt die Organisierung der bewusstesten politischen Kräfte in einer eigenständigen revolutionären Partei erfordert. Noch war und verstand der Spartakusbund sich aber als ein Teil der von der alten SPD abgespaltenen linken „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ und diese vertrat in der Frage der Organisierung der revolutionären Massen keinen klaren Kurs.

Rechte an der Spitze

Der Verlauf Novemberrevolution sollte in den folgenden Wochen bestätigen, was Luxemburg in diesem Leitartikel schon warnend feststellen musste: „Das Fazit der ersten Woche der Revolution heißt: im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlichen nichts verändert, die Arbeiter-und-Soldaten-Regierung fungiert als Stellvertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor den Arbeitermassen getragen. Bevor die Revolution noch Kraft, Schwung, Anlauf genommen, wird ihre einzige Lebenskraft, ihr sozialistischer und proletarischer Charakter, eskamotiert (weggezaubert)“.

Den Führern der Mehrheitssozialdemokratie, den Ebert, Scheidemann und Noske, war es gelungen, sich in wenigen Tagen an die Spitze des rebellischen, antimilitaristischen und sozialrevolutionären Ausbruchs zu stellen, der sich von Kiel aus sehr schnell über das ganze Reich ausgebreitet hatte. Diejenigen, die wie Ebert nach eigenen Worten eigentlich „die Revolution hassten wie die Sünde“, stellten sich an die Spitze der Rätebewegung, um die Revolution im Bündnis mit der Obersten Heeresleitung von oben abzuwürgen. Sie wollten in voller Absicht die Räte politisch kastrieren, um eine „normale“ parlamentarische bürgerliche Demokratie im Bündnis mit Militär und Kapital aufzubauen.

Das System der Räte hatte für sie nur die Funktion, im „wirtschaftsdemokratischen“ und sozialpartnerschaftlichen Sinne die durch den Krieg in Unordnung und Mitleidenschaft geratene Produktion wieder zu ordnen – ohne die Eigentumsfrage auch nur einen Moment lang zu stellen.

Was nicht zusammengehört

Doch auch die USPD-Linken im „Rat der Volksbeauftragten“ oder auch im Groß-Berliner „Vollzugsrat der Arbeiter-und-Soldaten-Räte“ schwankten zwischen Bejahung des Systems der Räte als der am besten geeigneten Form der „Diktatur des Proletariats“ und einer in sich widersinnigen Verquickung der Räte mit der bürgerlichen Demokratie und einer künftigen bürgerlichen Verfassung. Selbst ihre linken Wortführer Ernst Däumig und Richard Müller – Sprecher der „Revolutionären Obleute“, der Vertreter der wichtigsten Berliner Großbetriebe – vertraten noch auf dem außerordentlichen Parteitag der USPD im März 1919 dieses in sich völlig widersprüchliche Konzept. In den Diskussionsbeiträgen von Däumig auf dem Parteitag wurde bei allen Unterschieden zu den Positionen von Ebert und Co. klar, wie sehr die USPD-Linken vom Bazillus der „Wirtschaftsdemokratie“ und der Vorstellung von ausgeklügelten Rätestrukturen zur Verbesserung der Produktionsabläufe infiziert waren.

Hauptziel beider sozialdemokratischer Parteien war die Überführung der revolutionären Energien in die Errichtung einer „normalen“ bürgerlich-parlamentarischen Republik, die durch die Wahl einer Nationalversammlung den Übergangszustand mit einer provisorischen Regierung in Form des Vollzugsrates der Arbeiter-und-Soldaten-Räte beenden sollte. Auf dem 1. Kongress der Arbeiter-und-Soldaten-Räte im Dezember 1918 wurde mit 344 zu 89 Stimmen der Antrag abgelehnt, das Rätesystem zur Grundlage einer neuen Verfassung zu machen und der Termin der Wahl zur Nationalversammlung wurde für den 19. Januar 1919 festgelegt. Damit sollte aber das Rätesystem praktisch politisch entmachtet und auf ein Anhängsel der bürgerlich-parlamentarischen Regierungsgewalt zurückgestuft werden.

Vom Massenbewusstsein ausgehen

Auf dem Gründungsparteitag der KPD am 31. Dezember 1918 und 1. Januar 1919 kam es über die Frage „Rätemacht oder Nationalversammlung“ zu einer heftigen Kontroverse. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren beide entschiedene Vertreter des Rätesystems als Form der Ausübung der politischen Macht der Arbeiterklasse. Beide wiesen auch auf das Vorbild des russischen Rätesystems hin und darauf, dass die deutsche Novemberrevolution mit ihren Arbeiter-und-Soldaten-Räten dies von den Russen gelernt und übernommen hätte. Sie verteidigten die russische Räterepublik entschieden gegen die Kritik der rechten wie der „linken“ Sozialdemokratie.

Dennoch setzten sie sich für die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ein, weil sie wussten, dass die große Mehrheit der von der Sozialdemokratie beeinflussten Arbeiter die Verwirklichung der jahrzehntelange Forderung nach allgemeinen, freien und demokratischen Wahlen als eine große Errungenschaft der Revolution ansah. Die Mehrheit der Delegierten des Gründungsparteitags der KPD sah dies anders. Sie sah das bürgerlich-demokratische und parlamentarische System als „historisch überholt“ an und stimmte für den Boykott der Wahlen. Für sie kam nur das Rätesystem in Frage. Sie verwechselten damit ihre eigene richtige Grundsatzkritik am bürgerlichen Parlamentarismus mit der taktischen Frage der Ausnutzung auch von Wahlen um Parlamentspositionen für die Ziele der revolutionären und sozialistischen Bewegung.

Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch die Feinde der Revolution und der Rätemacht schien den „Wahlboykotteuren“ nachträglich Recht zu geben. Doch das Wahlergebnis bestätigte sehr deutlich, dass die übergroße Mehrheit der Arbeiter damals nur eine unklare Vorstellung von der politischen Funktion der Räte als einer potentiellen Form ihrer eigenen Klassenherrschaft besaß.

Die Stimmenaufteilung zwischen der (alten) Mehrheitssozialdemokratie und der linken USPD war eindeutig: Auf die USPD entfielen 2,3 Millionen Stimmen, auf die MSPD jedoch 11,5 Millionen. Der Aufruf zum Wahlboykott der jungen KPD wurde von der Masse der Arbeiter nicht nachvollzogen.

Anpassen oder führen?

Die neu gegründete Kommunistische (Dritte) Internationale zog aus den Erfahrungen mit dem Rätesystem Schlussfolgerungen für die Aufgaben der kommunistischen Parteien – denn die Erfahrungen hatten auch gezeigt, was das Rätesystem nicht zu leisten vermochte. Der II. Weltkongress der Komintern fasste 1920 die Erfahrungen mit dem Sowjetsystem in zwei wichtigen Resolutionen zusammen: den „Leitsätzen über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution“ und den „Leitsätzen über die Bedingungen, unter welchen Arbeitersowjets geschaffen werden dürfen“.

Unter Punkt 8 der „Leitsätze“ hieß es zum Verhältnis zwischen kommunistischer Partei und Sowjets: „Die Entstehung der Räte als der historisch gegebenen Hauptform der Diktatur des Proletariats verringert nicht im mindesten die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution. … In der Geschichte der russischen Revolution haben wir eine ganze Phase gehabt, wo die Sowjets gegen die proletarische Partei marschierten und die Politik der Agenten der Bourgeoisie unterstützten. Dasselbe haben wir auch in Deutschland beobachtet. Auch in andern Ländern ist das Gleiche möglich.

Damit die Räte ihre historische Mission erfüllen, ist im Gegenteil die Existenz eine starken kommunistischen Partei notwendig, die sich nicht einfach den Räten ‚anpassen‘, sondern imstande sein muss, ihre Politik entscheidend zu beeinflussen; sie zu veranlassen, sich von der ‚Anpassung‘ an die Bourgeoisie und die weiße Sozialdemokratie loszusagen: durch die kommunistischen Fraktionen die kommunistische Partei zur führenden Partei in den Räten zu machen. … Der ‚Rätegedanke‘ wird umso schneller siegen, wenn wir imstande sein werden, in jedem Land eine möglichst starke Partei zu schaffen.“

Protest formieren

Zwischen Novemberrevolution und „Gelbwesten“ liegen nicht nur 100 Jahre, sondern auch etliche politische Welten. Der Vergleich zeigt aber dennoch: Damit spontane Proteste zu entwickelten Klassenkämpfen werden, die auf einen revolutionären Höhepunkt hinarbeiten, ist die Existenz einer starken und gut organisierten kommunistischen Partei mit Masseneinfluss in den wichtigsten Großbetrieben und Gewerkschaften der alles entscheidende Punkt. Für unser Land, das derzeit noch weit entfernt von einer den „Gelbwesten“ ähnlichen Dynamik ist, geht es grundsätzlich um die stärkere Verankerung der DKP in der Arbeiterklasse, so wie wir es auf unserem letzten Parteitag diskutiert und beschlossen haben.

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"Von der Bewegung zur Gegenmacht", UZ vom 11. Januar 2019



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