Die „Wittstock-Filme“ von Volker Koepp

Von der Arbeit – und ihrem Verlust

Eine Chronik in sieben Filmen unterschiedlicher Länge, zeitlich gespannt über die Jahre 1974 bis 1997, allesamt gedreht in Wittstock an der Dosse, einer Kleinstadt im Nordosten Brandenburgs, die einst ein Zentrum der DDR-Textilindustrie war. Der vor den Toren der Stadt in den 1960er Jahren errichtete VEB Obertrikotagenwerk „Ernst Lück“ sicherte bis 1989 rund 2 800 vorwiegend weiblichen Beschäftigten Lohn und Brot – bis 1990 die Treuhand und die D-Mark kamen und die Belegschaft wie den Staat „befreiten“. Eine Langzeitchronik also wie die weitaus bekanntere über die „Kinder von Golzow“ von Winfried und Barbara Junge, und so ist es folgerichtig, dass der rührige Videovertrieb AbsolutMedien nach Junges Mammutwerk nun auch die Wittstock-Filme von Volker Koepp auf zwei DVDs herausbringt.

Auffallend sind zunächst die Unterschiede beider Zyklen. Wo die Junges bald den Sehgewohnheiten des Publikums entsprachen und in Farbe drehten, bleiben Koepp und sein Stammkameramann Christian Lehmann bis zum Schluss beim klassischen, asketischen 4:3-Schwarzweißformat, was zusammen mit einer subtilen Montage dem sachlich-besinnlichen Grundton des Berichteten die passende Färbung gibt. Dass dies nie kalt und unbeteiligt wirkt, dafür sorgen mehrere Faktoren: die von Film zu Film wachsende Vertrautheit des Filmteams mit den Frauen, der zurückhaltende Kommentar und nicht zuletzt der raffinierte, mit Humor gewürzte Schnitt. Gerade in der Abfolge der sieben Filme schält sich jedoch die Zusammenarbeit von Regie, Kamera und Musik als besonders stilprägend heraus, denn Lehmanns betont ruhige Kamerafahrten entlang der Maschinenzeilen oder der alten Stadtmauern lassen der Phantasie zu einprägsamen Oboentönen viel Spielraum. Wohl auch darum erscheint der erste Kurzfilm „Mädchen in Wittstock“, noch ohne Lehmann gedreht, wie eine didaktisch brave Pflichtübung.

Eine große Fabrik im Aufbau, ein Industrieobjekt mitten hineingesetzt in die agrarisch geprägte Landschaft, da sind Startschwierigkeiten und Animositäten vorprogrammiert. Schon die Titel der vor 1989 entstandenen Filme („Wieder in Wittstock“, „Wittstock III“, „Leben und Weben“ und „Leben in Wittstock“) lassen erkennen, dass Koepp sein Thema und seine wichtigsten Protagonistinnen erst noch finden muss. Er findet sie an den Fließbändern, bei Brigadesitzungen und Politversammlungen, in Straßenszenen und in Interviews daheim oder im Lehrlingswohnheim, und er findet sie vor allem durch seine spezielle Fragetechnik, die auch in seinen früheren Filmen („Hütes“ und anderen) schon Erstaunliches bewirkte: Seine Fragen kommen aus dem Off, aber nach den Antworten läuft statt einer Nachfrage nur Lehmanns Kamera für ein paar gedehnte Sekunden still weiter – ein Dialog in Körpersprache, der in Momenten fast zum Flirt mit der Kamera wird. Dass die Frauen in ihren Dialekten oft schwer zu verstehen sind, ist ein Problem, das man der Authentizität wegen in Kauf nimmt; es verliert sich im Verlauf der Serie, auch weil Koepp in jedem neuen Film längere Passagen von früher wieder aufnimmt und ergänzt.

Bald schon kristallisieren sich seine drei Hauptprotagonistinnen heraus: Elsbeth, genannt Stupsi, Edith und Renate. Elsbeth und Edith sind „Eigengewächse“ des Betriebs, der ihnen nach der Lehrlingszeit schon bald Leitungsfunktionen übertragen hat, die erfahrenere Renate hat es aus Sachsen hergetrieben, weil sie die Aufbauarbeit mit den jungen Kolleginnen reizte. Die geht natürlich nicht ohne Konflikte ab, die mal die Betriebshierarchie betreffen, oft aber persönliche Entscheidungen, und nicht immer mit dem erhofften Ergebnis, wie Renate mit leichtem Schmunzeln aus Erfahrung berichtet: „Etwas muss gemacht werden. Du wirst gefragt, ob du es machen willst. Du willst nicht, aber am Ende musst du es doch machen.“ Das karge Freizeitangebot aus Kino, Disco und Poolbillard-Kneipe füllt die jungen Frauen nicht aus. Die Frage Gehen oder Bleiben steht immer im Raum, erst recht nachdem 1989 „der Westen über uns gekommen“ und die berufliche und private Existenz bedroht ist.

„Neues in Wittstock“. Im Titel von Koepps erstem Wittstock-Film nach 1989, klingt schon leichter Sarkasmus mit, und das Neue zeigt sich bald nur als Austausch der Automarken und Firmennamen. Im Mai 1991 wird das Werk durch die Treuhand verkauft. Deren Manager spricht davon, Neufünfland „christianisieren“ zu müssen, meint damit aber reprivatisieren. An die Stelle des VEB ist jetzt eine GmbH in Gründung getreten, Koepps Team darf in den Werkshallen nicht mehr drehen, weil der neue Herr keinen „Werbenutzen“ für seine Firma darin sieht. Edith, der die Suche nach Wahrheit schon immer wichtig war und die schon im September 1989 aus der SED ausgetreten ist, wird als erste entlassen – und die Kamera, die sie vor dem Werk erwartet, erweist sich mit ihrem Draufbleiben ein einziges Mal als gnadenlos. 450 Leute hatte sie im Betrieb unter ihrer Leitung, bald wird sie in einem feinen Hotel den neuen Herren die Zimmer richten, schließlich sogar als einzige des Trios von Wittstock nach Süddeutschland umziehen.

Elsbeth, die selbstbewusste Träumerin, träumt zuvor von Bulgarien, jetzt träumt sie von Griechenland. Ihr lockeres Mundwerk und ihre blühende Phantasie haben sie zum eigentlichen Star der sieben Filme gemacht, doch nun zweifelt sie, ob sie nicht doch noch aufmüpfiger hätte sein sollen im Betrieb: „Unsere Kinder sagen heute, was sie denken.“ Ihr eigenes Leben nach der „Wende“ besteht aus Kurzzeitjobs und sinnlosen Umschulungen, „damit man sich nicht zuhause langweilt“. Dass taffe DDR-Frauen wie sie nun vom Einkommen der Männer abhängig sein sollen, will ihr nicht in den Sinn. Koepp verlässt sich auch hier auf die Aussagekraft der Interviewten, die keiner Kommentierung bedarf. „Wittstock, Wittstock“.

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"Von der Arbeit – und ihrem Verlust", UZ vom 6. Dezember 2019



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