Eine Rede des Schriftstellers Christian Geissler von 1965

Von den Herrschenden sprechen

Der Schriftsteller Christian Geissler (1928–2008) hat in seinen Werken immer wieder die Frage nach der Schuld der Väter und ihrer Rolle in der Nachkriegsgesellschaft aufgeworfen. Er schrieb Roman, Hörspiele und Gedichte und trat als engagierter Redner bei Kundgebungen der Ostermarsch-Bewegung auf.

Die Christian-Geissler-Gesellschaft bemüht sich, das Werk dieses bedeutenden Autoren wieder zugänglich zu machen. Sie gibt seit 2016 Reden von Christian Geissler als Jahresgaben heraus, die hier teilweise gekürzte Rede stammt aus dem Jahr 1965 und gewinnt durch die Drohungen des US-Präsidenten mit nuklearer Vernichtung missliebiger Staaten und die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen an Aktualität.

Die Broschüre der Geissler-Gesellschaft kann gegen eine Spende per E-Mail bezogen werden: info@christian-geissler.net

Mit dem Begriff HERRSCHENDE KLASSE bezeichnet man auch heute noch, sofern man exakt argumentieren will, jene Gruppen in den westlichen Gesellschaften, die dank ihrer materiellen Mächtigkeit imstande sind, die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln der Gesellschaft und damit das Bewusstsein der Gesellschaft so einzurichten, dass sie zugunsten von wenigen geraten und zum Unglück von vielen. Ja, Unglück. Denn der schöne Volkswagen ist eben einfach noch nicht gelungenes Glück, solange der, der ihn fährt, von sich selbst nichts weiß und seine Lage nicht kennt. Und es muss meines Erachtens das Unglück einer ganzen Gesellschaft genannt werden, wenn in ihr überwiegende Mehrheiten mit dem Problem der Spitzengeschwindigkeiten von Kraftfahrzeugen beschäftigt sind angesichts der auf der Gegenfahrbahn vorbeirollenden Raketeneinheiten unter dem Befehl von Offizieren, die schon einem Hitler gehorcht haben.

Der Wiener Schriftsteller Gerhard Bronner lässt bei einer bestimmten Gelegenheit einmal einen halbstarken Motorradfahrer die folgende Zeile singen: „Ich hab zwar keine Ahnung, wo ich hin fahr, aber dafür bin ich geschwinder dort.“ Dieses Wort steht auf fatal zutreffende Weise für den Zustand glücklich ohnmächtiger Massen in den westlichen Gesellschaften. Dass diese Ohnmächtigkeit von den Betroffenen nicht mehr begriffen wird als das, was sie ist, nämlich ein zentrales Unglück der menschlichen Existenz, bestätigt nur den Satz vom Vorhandensein einer bewusstlosen, überherrschten Klasse auch heute hier bei uns.

Oder andersherum: Wenn schon gegen alle klugen und halbklugen Tricks heute bewiesen werden muss, dass auch hier bei uns eine herrschende Klasse die Macht hat, dann nehme man doch den Beweis bitte künftighin aus der Tatsache, dass eben diese herrschende Klasse heute imstande ist, zu erreichen, dass von ihr kaum noch gesprochen wird, dass also die Beherrschten vergessen, wer sie beherrscht. So viel zum Begriff der herrschenden Klasse.

Was ich, bezogen auf das Urteil von Nürnberg, in diesem Zusammenhang klarmachen möchte, ist folgendes:

1. Herrschende Klassen können den Krieg immer nur scheinbar, nie tatsächlich wirksam bekämpfen, denn genau das gesellschaftliche System, das sie zur herrschenden Klasse macht, macht auch den Krieg.

2. Herrschende Klassen in verfeindeten Ländern sind – und das eben lässt sich am Nürnberger Prozess so genau beobachten – offensichtlich niemals so gründlich gegeneinander verfeindet, dass die herrschende Klasse im siegreichen Lande X der herrschenden Klasse im unterlegenen Lande Y die für deren Fortbestehen erforderliche materielle Basis wirklich zerschlägt. Täte sie das, sie würde sich damit den Boden zerschlagen, auf dem sie selbst aufbaut. Wird sie das tun? Nur politische Schwärmer können mit einem solchen Selbstopfer der Herrschenden rechnen. Realisten werden dem entgegen feststellen müssen: Die Leute oben helfen einander im Kampf gegen den Fortschritt der Massen, im Kampf um die Beibehaltung der alten Macht, noch über Auschwitz, Plötzensee und Hiroshima hinweg, stets wieder auf die alten Beine. Dabei kommt es nicht im Geringsten darauf an, ob die Herrschenden das in erklärt böser Absicht tun oder unter dem Zwang der ökonomischen und ideologischen Systeme, die sie eingerichtet haben. Sie haben sie eingerichtet. Das macht sie verantwortlich für die Folgen. (…)

Der Krieg wird nicht von denen abgeschafft, für die er auf die eine oder andere Weise ein Gewinn ist, ein Gewinn entweder im Bereich wirtschaftlicher Macht oder ein Gewinn im Bereich geistiger und geistlicher Macht. Der Krieg wird abgeschafft werden von denen, für die er einfach nur der gemeine Tod ist. Von uns. Oder von niemandem. (…)

Oben, ganz oben, fürchtet man seit eh und je den herrlichen Notstand, der ausbrechen wird, wenn wir hier unten, alle zusammen, aus unserer Narkose aufwachen und bemerken, was uns zahm hält, was uns ratlos und dämlich macht.

Generation für Generation. Damit wir das nicht bemerken, sind die kommenden Notstandsgesetze von der Art, dass z. B. Überlegungen wie die hier vorliegenden von heute auf morgen unter von uns nicht zu kontrollierenden Vorwänden verboten werden können.

In nicht ferner Zeit wird man dann endlich auch wieder hier bei uns jeden, der öffentlich gegen den Krieg und seine Hersteller arbeitet, fertigmachen können, kaputtmachen können. Nicht nur geistig, so wie das längst schon Springer und seine Leute tun, sondern physisch, sehr real, an Leib und Leben.

Ist das Panik? (…)

„Das Leben verlieren“, das ist ein harmloser, blöder Lyrismus. Man muss es deutlicher sagen: Wenn die Herren ans Ziel kommen mit ihrer antikommunistischen Bombenfreiheit, dann werden auch hier bei uns demnächst viele Männer, Frauen und Kinder ersticken, verbrennen, verhungern, verkommen. Und ein Rest wird irgendwo schreiend liegen. Und niemand wird sie hören, niemand wird sie mehr kennen. Nur ein Bischof vielleicht und vielleicht noch ein General werden unten im Privilegiertenbunker von Freiheit sprechen und in guter Absicht beten für die Seelen der Megatoten.

Angesichts der Nutzlosigkeit der Nürnberger Prozesse damals, angesichts der Brutalisierung unserer amerikanischen Befehlsgeber heute ist es schwer, nicht zu resignieren und nicht zynisch zu werden. Das ist eine gefährliche Situation. Man muss sich auch hier zur Wehr setzen. Denn an der Resignation und am Zynismus krepiert das Denken des Menschen, krepieren seine besten Hoffnungen, verkommt schließlich der ganze Kerl. Und das soll uns nicht passieren. Denn wenn es uns passiert, dann sind wir wieder einmal fit für den nächsten Faschismus, für die nächste Barbarei, für den nächsten Krieg der herrschenden Klassen. Dann können sie, so wie heute schon mit den armen blöden Ledernacken, endlich auch mit uns machen, was ihnen passt.

Halten wir uns deshalb vielleicht gelegentlich ganz unliterarisch, ganz auf das Praktische gerichtet, an das, was Bertolt Brecht im Jahre 1952 auf dem Völkerkongress für den Frieden in Wien gesagt hat: „Nichts wird mich überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde. Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind. Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“

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"Von den Herrschenden sprechen", UZ vom 13. Oktober 2017



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