Verteidigung und Erweiterung demokratischer Rechte bleibt eine Gegenwartsaufgabe

Von (Betriebs-) Räten zur „Mitbestimmung“

Von Rainer Perschewski

Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland und mit ihr die Rätebewegung ist keine kurzfristige, auf wenige Monate begrenzte Erscheinung gewesen, mit denen ein paar Radikale – wie einige bürgerliche Geschichtsschreiber deutlichen machen wollen – Deutschland die sozialistische Sowjetrepublik aufdrücken wollten. Die Rätebewegung ist ein Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung der Werktätigen im Betrieb und in der Gesellschaft. Dafür spricht die rasante Verbreitung der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten im November 1918. Letztlich ist die Abdankung des deutschen Kaisers, die Beseitigung der Reste des Feudalismus und die Einführung von Rechten der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ohne die Macht der Räte nicht denkbar. Viele Veranstaltungen und Veröffentlichungen zur Novemberrevolution vermitteln dennoch den Eindruck, als wäre diese Entwicklung rasch vorbeigewesen. Zwar verloren die Arbeiter- und Soldatenräte schnell ihre bestimmende Macht, aber die Rätebewegung blieb in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine einflussreiche Größe, mit der die Herrschenden rechnen mussten.

Dass selbst die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 dem Rechnung tragen musste, ist sicherlich den Streikbewegungen in Deutschland in der ersten Jahreshälfte 1919 zu verdanken, die im Wesentlichen von den betrieblichen Räten organisiert wurden und die zum Teil durch Freikorps blutig niedergeschlagen wurden. Im fünften Abschnitt „Wirtschaftsleben“ der Verfassung wurden Ansätze zur Demokratisierung der Wirtschaft festgelegt. Im Artikel 165 der Verfassung heißt es: „Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.“ Sie sollten nicht nur über Lohn- und Arbeitsbedingungen mitbestimmen können, sondern auch an der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung mitwirken. Der Reichswirtschaftsrat sollte zu grundlegenden Fragen gehört werden, selbst Gesetze vorschlagen dürfen und Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse erhalten. Dazu sollte ein Betriebsrätegesetz erarbeitet werden, dessen erster Entwurf im Sommer 1919 vorgelegt wurde.

Der Reichsbetriebsrätekongress war noch bis etwa 1923 ein nicht unerhebliches Zentrum der Rätebewegung. Der Rätegedanke schlug sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen nieder. So wurden im Zuge der Schulreform Schülerräte und im Sozialbereich Erwerbslosenräte gebildet und für Intellektuelle der „Rat der geistigen Arbeiter“ angedacht. Vieles verschwand mit dem schwindenden Einfluss der Räte oder wurde nicht umgesetzt.

Das geplante Betriebsrätegesetz machte noch einmal die gegensätzlichen Vorstellungen der Rätebewegung und der regierenden Mehrheitssozialdemokratie bzw. den Einfluss des Monopolkapitals und die damit verbundene Restauration der gesellschaftlichen Verhältnisse deutlich. Vor allem das gesellschaftliche Agieren der Betriebsräte war den Kapitalorganisationen ein Dorn im Auge. Für die Ebert-Regierung sollte eine Mitwirkung in Lohn- und Arbeitsbedingungen reichen, während für die zu dieser Zeit schon agierenden Räte auch die wirtschaftliche Selbstbestimmung eine wesentliche Rolle spielte. Der Gesetzentwurf sah somit im Verständnis der Betriebsräte eine weitgehende Entmachtung vor.

Nach den Streikbewegungen im Frühjahr 1919 kündigten sich im Herbst neue soziale Kämpfe an. So entspann sich zur Abwehr von Lohnsenkungen allein in der Berliner Metallindustrie eine Auseinandersetzung, auf deren Höhepunkt 160 000 Metallarbeiter in den Streik traten. Vor diesem Hintergrund wurde auch der Widerstand gegen das Betriebsrätegesetz energischer und fand seinen Höhepunkt in einer Großdemonstration vor dem Berliner Reichstag im Januar 1920 mit etwa 100000 Teilnehmern. Durch massiven Einsatz von Sicherheitspolizei waren am Ende 42 tote Arbeiter und über 100 Verletzte zu beklagen. Die Reichsregierung verhängte den Ausnahmezustand.

An den Rechten der Betriebsräte hat sich im Grundsatz bis heute nichts geändert. Es ist bei einer „Mitbestimmung“ geblieben. Dennoch sind Betriebsräte ein wichtiger Faktor für betriebliche Kämpfe und der Kampf um die Verteidigung und Erweiterung demokratischer Rechte bleibt eine Gegenwartsaufgabe – vor allem im Betrieb.

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"Von (Betriebs-) Räten zur „Mitbestimmung“", UZ vom 11. Januar 2019



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