Rolf Geffken ist Rechtsanwalt für Arbeitsrecht und Autor des Buches „Umgang mit dem Arbeitsrecht – Handbuch für Beschäftigte“, Verlag: VAR, 2019, Preis: 29,80 Euro.
Legenden können hartnäckig sein. So etwa beim deutschen Arbeitsrecht – jedenfalls im Ausland. Die glorreichen Gewerkschaften, der perfekte deutsche Sozialstaat und die erfolgreichen Betriebsräte. Das Bild – entstanden und vermittelt in den 1970er Jahren – geistert weiter um den Globus. Sehr zur Freude des Auswärtigen Amtes. Von Hartz IV und vom neoliberalen Abbau der Arbeitnehmerrechte keine Rede und keine Spur.
Mir fiel das schon 1995 in Manila auf und dann später im chinesischen Kanton. Bei Vorlesungen und Vorträgen zum deutschen Arbeitsrecht stieß ich immer wieder auf Unverständnis und schließlich auf Enttäuschung bei den Zuhörern. Die von mir skizzierte deutsche Realität wich einfach zu sehr von dem positiven Bild ab, das sich die Freunde und Kollegen vom deutschen Arbeitsrecht gemacht hatten, oder besser: das sie – von wem auch immer – vermittelt bekommen hatten. In Manila hatte sich Ende der 1990er Jahre noch nicht herumgesprochen, dass der gewerkschaftseigene „Konsum“ alias coop, die Bank für Gemeinwirtschaft und andere Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland längst Geschichte waren. In China war der Glaube an die betriebliche Mitbestimmung in deutschen Unternehmen noch vor einigen Jahren besonders ausgeprägt.
Und jetzt musste ich bei einem Besuch in Russland erneut enttäuschen. Als beim Gespräch mit der Stellvertretenden Vorsitzenden des Dachverbandes Russischer Gewerkschaften im Oblast Kaliningrad das Gespräch auf das deutsche Arbeitsrecht kam, war die Enttäuschung groß. Illusionen verflogen rasch.
Was allein die Fragen der russischen Kollegin über das deutsche Arbeitsrecht offenbarten, hatte es in sich:
Beispiel: Haben die deutschen Gewerkschaften auch „ein Initiativrecht in der Gesetzgebung“?
Wie bitte? Der DGB unterbreitet dem Bundestag in einem Gesetzgebungsverfahren einen Vorschlag zur Erschwerung befristeter Arbeitsverhältnisse? Wo kämen wir da hin? Übrigens: In Russland wäre eine solche Gesetzesinitiative tatsächlich sinnlos, weil das russische Arbeitsgesetzbuch die Befristung von Arbeitsverhältnissen – wie früher auch im westdeutschen Arbeitsrecht und im DDR-Arbeitsrecht – nur ausnahmsweise erlaubt (Art. 58 und 59 Russisches AGB).
Ein weiteres Beispiel war die Frage nach den öffentlich-rechtlichen Befugnissen der deutschen Gewerkschaften. Eine Frage, die ohne Vorkenntnisse im russischen Recht kaum verstanden wird. Während Gewerkschaften in Deutschland in Bezug auf betriebsinterne Daten zum Arbeitsschutz und zum Arbeitsrecht keinen Zugriff haben, müssen sich deutsche Betriebsräte ihr Informations- und Auskunftsrecht nach § 80 BetrVG immer wieder neu erkämpfen. Ein russischer Unternehmer, der den Gewerkschaften dieses Recht verweigert, muss umgekehrt mit einer behördlichen Durchsetzung dieses Rechts der Gewerkschaften rechnen.
Kein Wunder also, dass die Unternehmensberatung Rödl & Partner in ihren Hinweisen für westliche Investoren auf die „Überholtheit“ solcher Regelungen verweist: Sie stammen in ihrer Grundstruktur noch aus dem alten sowjetischen Arbeitsrecht. Und nach dem hatten die Gewerkschaften teilweise öffentlich-rechtliche Funktionen – wie übrigens auch heute noch die chinesischen Gewerkschaften. Dass umgekehrt der hiesige Staat sich aus den hiesigen Arbeitsbeziehungen weitgehend heraushält und das Arbeitsrecht bis auf die gerichtliche Kontrolle weitgehend ohne staatlichen Gesetzesvollzug auskommen muss – wer weiß das schon?
Aber es ist schlicht die Realität. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man unter „Arbeitsverwaltung“ die Verwaltung der Arbeitslosigkeit, aber nicht die Kontrolle des Rechts der Arbeit versteht. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der einzelne Arbeitnehmer beim Arbeitsgericht „seine“ Klage erhebt und nicht etwa bei einer „Arbeitsverwaltung“ interveniert.
Wer heute hierzulande behauptet, das russische oder auch das chinesische Arbeitsrecht sei fortschrittlicher als das unsrige, der muss mit vehementem Widerspruch rechnen. Und zwar nicht, weil der oder die Widersprechende etwa über profunde Kenntnisse des russischen oder des chinesischen Arbeitsrechts verfügen würde. Nein, Widerspruch kommt von jenen, die das andere Arbeitsrecht gar nicht kennen wollen.
Sie führen die berühmte Formel vom Unterschied zwischen „Recht und Wirklichkeit“ ins Feld. Die Wirklichkeit in China, die Wirklichkeit Russland, die Wirklichkeit auf den Philippinen usw. Diese sei „ganz anders als das Recht“.
Doch wie ist die Wirklichkeit in Deutschland? Sind soziale Gerechtigkeit und Arbeitsrecht hier deckungsgleich? Immerhin wurde das Arbeitsrecht hierzulande ja gut 40 Jahre lang an eine neoliberale „Wirklichkeit“ angepasst.
Weite Bereiche des Arbeitsrechts sind immer noch nicht oder nur teilweise vollzogen – und zwar trotz weitreichender neoliberaler Zerstörung. Nehmen wir nur das Betriebsverfassungsgesetz, das angesichts tausender betriebsratsloser Unternehmen immer noch – und zwar sozusagen täglich – auf seinen Vollzug wartet. Nehmen wir die Schriftform von Arbeitsverträgen, die sich in vielen Bereichen immer noch nicht herumgesprochen hat und die den Beschäftigten die Durchsetzung ihrer Rechte erheblich erleichtern würde.
Natürlich gibt es ein Vollzugsdefizit auch in anderen Ländern. Natürlich sind angesichts vieler wirtschaftlicher Probleme zum Beispiel in Russland oder auch in China die tatsächlichen Arbeitsstandards meist geringer als diejenigen in Deutschland. Und dennoch: Das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit ist komplizierter und weitaus interessanter, als uns manch schnelle abwehrenden Handbewegung glauben machen will.
Die Umsetzung rechtlicher Normen ist von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängig. Aber auch das Recht selbst ist auf bestimmte politische Kräfteverhältnisses zurückzuführen. Diese Kräfteverhältnisse haben keineswegs nur historische oder gar „museale“ Bedeutung, auch Marxisten verweisen auf die Normen des deutschen Grundgesetzes.
Dieser Verfassung lag ein ganz anderes politisches Kräfteverhältnis zu Grunde, als wir es heute kennen – und diese Verfassung gilt. Wer wollte das damit relativieren, dass das politische Kräfteverhältnis heute ein anderes sei? Im Gegenteil wird die aktuelle politische Lage zu Recht als „gundgesetzwidrig“ charakterisiert.
Das Recht gebietet seinen Vollzug. Und im Arbeitsrecht heißt dies, dass der Schutz der Interessen der abhängig Beschäftigten in den Mittelpunkt des Umgangs mit ihm gestellt werden muss. Dort, wo das Recht auf veränderte Kräfteverhältnisse reduziert wurde, geht es darum, frühere Rechte zu vergegenwärtigen und aktuellen Rechtszuständen keinen Ewigkeitswert zu unterstellen. So zum Beispiel bei der Leiharbeit, die wir in Deutschland vor 40 Jahren gar nicht kannten.
Um wie viel glücklicher aber können sich dann diejenigen schätzen, die auf einen aktuellen Rechtsstandard verweisen können, der weit über den hiesigen hinausgeht? Nur drei Beispiele:
1. In Russland sind Umsetzungen und Versetzungen grundsätzlich nur mit Zustimmung der Beschäftigten möglich. In Deutschland nicht.
2. In China besteht bei Kündigungen grundsätzlich ein Anspruch auf Abfindungen. In Deutschland nicht.
3. Auf den Philippinen muss das Arbeitsrecht im Zweifel immer „zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt“ werden. In Deutschland nicht.
Es ist höchste Zeit, der Legendenbildung um das eigene Arbeitsrecht ein Ende zu setzen, und zwar gerade durch den internationalen Vergleich. Solche Vergleiche zerstören Legenden. Gewiss gilt dies auch in für Westeuropa, etwa Portugal, Belgien oder Frankreich, vor allem etwa, was das angebliche Verbot des politischen Streiks und des Beamtenstreiks betrifft. Aber gerade die „exotischen Beispiele“ Russland, China und Philippinen zeigen, dass die Legende vom grandiosen deutschen Arbeitsrecht nie so falsch war wie heutzutage. Mit der Wirklichkeit des Neoliberalismus war sie noch nie kompatibel. Wer dem Neoliberalismus das Wort redet, kann nicht gleichzeitig behaupten, das durch denselben konterkarierte deutsche Arbeitsrecht sei „arbeitnehmerfreundlich“.