EU-Entsenderichtlinie: Prekäre Arbeitsverhältnisse sind weit verbreitet

Von Arbeitsrechtsverstößen bis Sozialleistungsbetrug

Europa ist mehr als ein Binnenmarkt, Europa steht auch für sozialen Fortschritt und Schutz. Deshalb schaffen wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der geänderten EU-Entsenderichtlinie faire Wettbewerbsregeln für Unternehmen und gleiche Lohnvorschriften für alle, die in Deutschland arbeiten. So schützen wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping und ehrliche Unternehmer vor unfairem Wettbewerb.“ Das erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Februar 2020, nachdem das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der 2018 überarbeiteten EU-Entsenderichtlinie beschlossen hatte.

Die Richtlinie regelt die nationalen Arbeitsbedingungen für entsandte Beschäftigte. Hierunter versteht man Lohnabhängige, die ihren Arbeitsvertrag bei einem Unternehmen unterschrieben haben, das seinen Sitz im EU-Ausland (meist in Osteuropa) hat. Allein auf den Baustellen zwischen München und Kiel gehören über 80.000 Menschen zu dieser Gruppe von Beschäftigten. Deren kärgliche Entlohnung erfolgt – nachdem der Branchenmindestlohn aufgrund der Blockadehaltung der Kapitalseite ab 2022 komplett weggefallen ist – nur noch auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns. Und dieser wird oftmals trickreich unterlaufen.

Mit der Überarbeitung der Richtlinie 2018 und deren Umsetzung in nationales Recht 2022 sollten hier eigentlich – so die offiziellen Verlautbarungen aus Brüssel und Berlin – Verbesserungen für die betroffenen Arbeiter erreicht werden. Von einem Anspruch auf Zuschläge bei besonders anstrengenden Tätigkeiten und Überstunden, einem finanziellen Verpflegungszuschuss bei der Arbeit auf Baustellen sowie einer Wegezeit-Entschädigung, wenn „die Baustelle besonders weit vom eigenen Arbeitgeber und Wohnort entfernt liegt“, war die Rede.

Die Realität ist eine andere: Ausbeutung und prekäre Beschäftigung bestimmen weiterhin den Arbeitsalltag. Gewerkschaftsnahe Beratungsstellen wie „Faire Mobilität“, „Arbeit und Leben“, der Europäische Verein für Wanderarbeiterfragen (EVW) und „Faire Integration“ berichten von Arbeitsrechtsverstößen wie Mindestlohnunterschreitung und Sozialleistungsbetrug. Hinzu kommt, dass viele „mobile Beschäftigte“ aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse ihre Rechte kaum kennen und Kollegen aus Drittstaaten um ihren Aufenthalt und damit um ihr Einkommen fürchten müssen, wenn sie sich gegen Rechtsverstöße zur Wehr setzen.

Auch ist weiterhin an der Tagesordnung, dass Arbeiter in Scheinselbstständigkeit gedrängt werden, anstatt eine Beschäftigung zu erhalten. Betroffen sind hier besonders diejenigen, die für kurze Arbeitseinsätze nach Deutschland kommen. Das alles wird durch unübersichtliche Subunternehmerketten und unzureichende Kontrollen begünstigt. „Dabei geschieht die ausgedehnte Untervergabe von Aufträgen nicht, weil Subunternehmen besondere Fachkompetenzen vorweisen könnten, sondern schlicht, weil sie schlechtere Löhne zahlen und teilweise schwarzarbeiten lassen. Insbesondere im Hochbau sind tarifgebundene kleine und mittlere Unternehmen mit ihren Stammbelegschaften nach Jahrzehnten harten Preiswettbewerbs nicht mehr konkurrenzfähig“, so die Kritik von IG BAU und DGB.

Damit sich an dem himmelschreienden Arbeitsunrecht auf deutschen Baustellen endlich etwas ändert, braucht es aus Sicht der Gewerkschaften neben starken Tarifverträgen mehr und bessere Kontrollen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss besser ausgestattet und Subunternehmerketten müssen begrenzt werden. Es braucht ein arbeitsrechtliches Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, damit das intransparente Durchreichen der Verantwortung beendet wird. Außerdem müssen Tariftreue, die Begrenzung von Subunternehmerketten und Kontrollen im Rahmen der öffentlichen Vergabe verbindlich werden.

Wer hier jedoch seine Hoffnung „auf entscheidende Weichenstellungen für faire grenzüberschreitende Arbeitsbedingungen“ durch die im Juni anstehenden EU-Wahlen setzt, wird sicher bitter enttäuscht. Denn warum sollten 27 dem Neoliberalismus verpflichtete Länder – nur weil sie sich zu einem Staatenbund zusammengeschlossen haben – plötzlich Politik im Interesse der arbeitenden Menschen betreiben

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"Von Arbeitsrechtsverstößen bis Sozialleistungsbetrug", UZ vom 5. April 2024



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