An irgendeinem Ort in Amerika bin ich ihm begegnet. Seine Lebensgefährtin Laura empfing mich und sprach mit mir, bevor sie mich zu ihm brachte. Einerseits notwendige Sicherheitsmaßnahmen einer Guerilla, deren Kämpferinnen und Kämpfer immer mit dem Tod konfrontiert sind; aber auch seine persönliche Situation war es, die die Genossin zu seiner ständigen Begleiterin machte. Denn Seuxis Pausias Hernández war stark sehbehindert und erblindete schließlich.
Dessen Namen er angenommen hatte, war 1990 ermordet worden: Jesús Santrich, sein bester Freund. Seuxis Hernández beschloss unter dessen Namen 1991 in die klassenkämpferisch orientierte Guerilla FARC-EP zu gehen, der er zuvor noch als Mitglied der Kommunistischen Jugend zugearbeitet hatte. Als Pseudonym den Namen eines vom behördlichen Apparat getöteten politischen Aktivisten anzunehmen, ist in den FARC nicht unüblich – den Beginn hatte deren legendärer Kommandant Pedro Antonio Marín gemacht, der den Namen eines vom Geheimdienst 1953 ermordeten KP-Genossen namens Manuel Marulanda angenommen hatte.
Jesús Santrich war Teil der Delegation der FARC bei den 2016 formal erfolgreichen Friedensvereinbarungen und verteidigte zunächst deren Ergebnisse; er wurde Parlamentsabgeordneter. Nachdem er 2018 wegen angeblichen Drogenhandels verhaftet und später angesichts der allzu offensichtlichen Beweisfälschungen freigelassen wurde, gehört er im August 2019 zu den Neugründern der Guerilla, die mit der Bezeichnung „Zweites Marquetalia“ die bewaffnete Befreiung fortsetzt, nachdem die Regierung trotz des Abkommens und ihrer Versprechungen hunderten Morden an früheren FARC-Guerilleros tatenlos zusah.
Marxist mit kommunistischer Grundausbildung und Praktiker durch die Wirklichkeit, wollte Jesús wissen, wie es um die revolutionäre Sache in Deutschland stünde; zu keinem Zeitpunkt offenbarte er hinsichtlich der Antwort Illusionen, die sowieso nicht ernsthaft zu zerstreuen gewesen wären. Zum Dialektiker geworden durch das unausweichliche Erleben extremer Widersprüche – die zum Lernen zwingen und den Satz, wonach das Sein das Werden des Ganzen ist, ganz plötzlich verständlich werden lassen – hörte er genauso aufmerksam wie freundlich zu. Ganz Revolutionär und ganz Kolumbianer, eben Sohn des höflichsten Volkes Amerikas.
Am 17. Mai wurde der freie Mann Seuxis Hernández in Venezuela, kurz vor der Grenze zu Kolumbien, Opfer eines Überfalls – dessen Urheberschaft von seinen Genossen einer Einheit des kolumbianischen Militärs, von anderen Quellen venezolanischen Ordnungskräften, von wieder anderen dem organisierten Verbrechen zwecks Erlangung des Kopfgelds zugeschrieben wird.
Klar ist: Er wurde wegen seiner politischen Überzeugung ermordet, den Kampf um die soziale und politische Befreiung in allen Formen führen zu dürfen, wenn das Volk von der herrschenden Klasse unterdrückt und verfolgt wird. Klar ist aber auch: Der Genosse Seuxis Hernández starb, aber Jesús Santrich konnte nicht ein zweites Mal getötet werden.
Vorab aus der UZ vom 28. Mai 2021