Am 21. März 1933 übergab Theodor Leipart einen Brief an Hitler, mit dem dieser davon überzeugt werden sollte, dass „die Gewerkschaften ein unerlässlicher Bestandteil der sozialen Ordnung“ sind. Da war Hitler seit fast zwei Monaten an der Macht, drei Wochen vorher hatten die Nazis den Reichstag angesteckt, der Naziterror wütete im ganzen Reich. Leipart war der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), des größten, eng mit der SPD verbundenen Gewerkschaftsbundes in Deutschland. Bis zum ersten Mai 1933 hoffte er noch darauf, dass die Gewerkschaften als legale Organisationen erhalten bleiben könnten. Das war es, was die sozialdemokratische Führung den Arbeitern seit Jahrzehnten einimpfte: Abwarten, Disziplin, nicht provozieren lassen. Das wichtigste ist, die Organisation zu erhalten.
Nur ein kleiner Teil der sozialdemokratischen Arbeiter ließ sich „provozieren“ und versuchte noch im allerletzten Moment, die kommunistischen Aufrufe zur Einheitsfront mit gemeinsamen Aktionen zu beantworten. Die Mehrheit hielt Disziplin. Manche glaubten sogar, als die Nazis den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag machten und die Demonstrationen zum 1. Mai 1933 in die eigenen Hände nahmen, dass die Nazipropaganda von Sozialismus und Volksgemeinschaft nun Wirklichkeit werde. Die ADGB-Führung hatte die Beschäftigten dazu aufgerufen, „sich allerorts an der von der Regierung veranlassten Feier festlich zu beteiligen“.
Nur einen Tag nach diesem Nazi-Theater kommt der Nazi-Terror auch zu Theodor Leipart. Während die ADGB-Führung unterwürfige Erklärungen beschloss, hatten die Nazis schon geplant, was dann am 2. Mai 1933 geschieht: Die SA stürmt alle Gewerkschaftshäuser, die sie nicht schon vorher besetzt hat. In einer reichsweiten Aktion zerschlagen die Nazis die Gewerkschaften, rauben die Kassen, sperren Funktionäre ein. Leipart wird im Haus des ADGB von den SA-Schlägern festgenommen, verhöhnt, geprügelt.
„Gefälligkeit“ – für wen?
Den Naziterror gegen die Arbeiterbewegung bestreitet heute kaum jemand. Aber wie die Beschäftigten im Faschismus lebten und arbeiteten gehört zu den Fragen, über die Historiker streiten: Götz Aly nennt den Faschismus eine „Gefälligkeitsdiktatur“ – Hitler habe seine Macht vor allem deshalb sichern können, weil er die deutsche Bevölkerung mit sozialen Wohltaten ruhigstellte. „Hitlers Volksstaat“ heißt das Buch, in dem er 2005 seine Version der Geschichte vorlegte. Die Marxisten haben dagegen immer betont, dass die Gefälligkeiten der Nazidiktatur nur den größten deutschen Konzernen nutzten. „Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“, heißt die klassische Definition der Kommunistischen Internationale.
In ihrer Selbstdarstellung versuchten die Nazis allerdings, sich als Kraft zu geben, die auch den einfachen Deutschen ein besseres Leben bringen würde – in der Volksgemeinschaft gebe es kein oben und unten mehr, nur noch Deutsche.
Führer und Gefolgschaft
Sozialpartnerschaft bedeutet den Glauben daran, dass es einen Kompromiss zwischen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ geben könne. Dieser Glaube bestreitet nicht, dass es einen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit gibt – aber er hofft darauf, dass sich in geordneten Tarifrunden und an der Wahlurne für die Arbeiterklasse das Beste herausholen lässt. Die Nazi-Ideologie der „Volksgemeinschaft“ bedeutet, jeden zum Schädling zu erklären, der auch nur sagt, dass es einen Interessengegensatz gibt.
Mit dieser Ideologie gestalteten die Nazis die Arbeitsbeziehungen um. Schon am 19. Mai 1933 trat ein Gesetz in Kraft, das jede Form von Tarifverhandlung verbot: Das Gesetz über die „Treuhänder der Arbeit“. Diese Treuhänder wurden vom Reichskanzler, also von Hitler, ernannt. Sie hatten nach dem Gesetz die Aufgabe, „rechtsverbindlich die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen zu regeln“. Das hieß: Keine Tarifverhandlungen. Keine Gewerkschaftsforderungen. Ein Regierungsbeamter diktiert Löhne und Arbeitszeiten.
Die Wirklichkeit am Arbeitsplatz lässt das Gesetz erahnen, das im Januar 1934 in Kraft trat: Das Gesetz zur „Ordnung der nationalen Arbeit“. Paragraph 1: „Im Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinen Nutzen von Volk und Staat.“ Das war mit Volksgemeinschaft gemeint: Die Unternehmer die Führer, die Beschäftigten die Gefolgschaft. Der Führer entscheidet, die Gefolgschaft arbeitet. Das Gesetz schaffte die Betriebsräte auch juristisch ab – schon im Frühjahr 1933 hatten die Unternehmer mit Unterstützung der Nazischläger die Betriebsräte weitgehend beseitigt. Statt Betriebsräten sollte es nun „Vertrauensräte“ geben, in denen Vertreter der „Gefolgschaft“ mit dem „Führer des Betriebes und unter seiner Leitung“ über betriebliche Fragen zu beraten hatten. Das einzige greifbare Recht, das diese Vertrauensräte hatten, war, den Treuhänder der Arbeit „anzurufen“.
Die Gewerkschaften waren zerschlagen – an ihre Stelle trat die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), eine Organisation, in der Unternehmer und Beschäftigte gleichermaßen zwangsorganisiert waren. In den DAF-Gremien mussten Unternehmer und Beschäftigte paritätisch vertreten sein. Diese Organisation übernahm auch das Vermögen, das die Nazis den Gewerkschaften geraubt hatten.
Was die SA schon durchgesetzt hatte, war nun Gesetz: Jede eigenständige Interessenvertretung der Beschäftigten war illegal. Die Akten der Gestapo zeigen, dass schon Arbeiter, die zu laut über die Zustände im Betrieb meckerten, in Folterkeller und KZ gebracht wurden. Wer Überstunden verweigerte, konnte bis zu einem Jahr im Gefängnis landen.
… aber die Autobahnen
Seit 1929 befand sich die kapitalistische Weltwirtschaft in ihrer bisher tiefsten Krise. Nach der Machtübernahme der Faschisten nahm die Arbeitslosigkeit ab, 1936 herrschte in Deutschland Vollbeschäftigung. Dazu trugen staatliche Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung bei, ab Juni 1935 mussten alle Jugendlichen „Reichsarbeitsdienst“ leisten, im gleichen Jahr wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt. Der Staat investierte, das kurbelte die Wirtschaft an: Die neu eingestellten Beschäftigten bauten die Panzer und Flugzeuge, mit denen die Wehrmacht Europa erobern sollte, und sie bauten die Autobahnen, auf denen die Panzer nach Osten rollen sollten. Hitlers Weg aus der Krise war der Weg zum Krieg: Aufrüstung mit allen Mitteln, die der Nazidiktatur zur Verfügung standen. Dieser Weg brachte den Konzernen Profite, die Arbeiter führte er zum Schlachten an die Front.
Aber zunächst sorgte der neue Wirtschaftsaufschwung dafür, dass mehr Menschen Arbeit hatten, dass damit auch die Haushaltseinkommen stiegen, wenn mehrere Gehälter zusammenkamen. Tatsächlich sorgten die Nazis dafür, dass ein kleiner Teil der Erträge auch in ihre Sozialprogramme flossen: Urlaub mit „Kraft durch Freude“, die DAF setzte unter dem Namen „Schönheit der Arbeit“ gerade in kleineren und mittleren Betrieben Kantinen, bessere Belüftung der Werkhallen und neue Toiletten durch. Dazu kam die Symbolpolitik der Nazis: Dass nun auch die Herren des Unternehmens am ersten Mai in einer Reihe mit den Arbeitern marschieren mussten, gefiel manchen Kollegen. Diese Almosen und Symbole waren eine Randerscheinung, Historiker wie Götz Aly machen sie dagegen zur Hauptsache, um die Behauptung vom nationalen Sozialismus zu unterfüttern.
Knochenbrechen für den Krieg
Zu den Dingen, die Götz Aly mit gutem Grund verschweigt, gehört, wie sich unter den Nazis die Löhne entwickelt haben. Schon zu Beginn der Naziherrschaft erlaubten die „Treuhänder der Arbeit“ den Unternehmen häufig, niedrigere Löhne als unter den früheren Tarifverträgen zu zahlen. Der Nazistaat setzte sich für niedrige Löhne ein – und zwar mit Erfolg: Die Lohnquote sank. 1932 hatte sie 68 Prozent betragen, 1938 waren es nur noch 55 Prozent. Die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung blieben aber auf dem hohen Niveau der Krisenjahre, dazu mussten die Beschäftigten Beiträge und „freiwillige“ Spenden für die DAF oder die Winterhilfe zahlen. Die Hitlerregierung wollte weniger Geld für importierte Fette und mehr für Rüstung ausgeben und gab die Losung „Kanonen statt Butter“ aus. Für die Arbeiter wurde die Butter teurer.
Dank der Rüstungsaufträge stiegen die Profite der Unternehmen an. Und noch etwas stieg an: Die Arbeitszeit. Schätzungen zufolge arbeiteten die Beschäftigten 1932 im Schnitt 41,5 Stunden pro Woche, kurz vor Kriegsbeginn waren es 47,5 Stunden.
Gleichzeitig sorgte der Nazistaat dafür, dass neue, moderne Formen der Betriebsorganisation im Sinne der Unternehmer eingeführt wurden: Die Jahre des Faschismus waren auch die Jahre einer tayloristischen Umgestaltung (Refa-Verfahren), mit deren Hilfe die Unternehmer die Leistung ihrer Beschäftigten genauer kontrollieren konnten. Mehr und mehr zahlten sie Leistungs- statt Zeitlöhne, das führte auch dazu, dass die Lohndifferenzen stiegen. Die Arbeitsintensität stieg an, mit der Kriegshetze kam die Arbeitshetze am Fließband.
Große Kaserne
Für den Arbeiter bedeutet Kapitalismus wenigstens eins: Er hat die Freiheit, sich seinen Ausbeuter selbst auszusuchen. Besonders den Rüstungskonzernen fehlten ab Mitte der 30er Jahre Facharbeiter. Gegen die Naziherrschaft konnten die Beschäftigten sich nicht organisieren, nicht offen äußern – aber sie konnten einen anderen Arbeitsplatz suchen. Manche Unternehmen boten deshalb höhere Löhne an. Der Staat griff ein: Die „Treuhänder der Arbeit“ durften ab 1938 auch Höchstlöhne festlegen – der Staat legte also fest, dass die Unternehmen ihren Arbeitern nicht mehr als einen bestimmten Lohn zahlen durften. Und selbst das letzte Recht des Arbeiters schaffte die Hitlerregierung noch vor dem Krieg ab: Immer stärker konnten die Arbeitsämter kontrollieren, wer wo arbeitet. Im Februar 1939 trat eine Verordnung in Kraft, die die „Dienstpflicht“ von Arbeitern regelte. Nun durfte das Arbeitsamt die Beschäftigten auch für Arbeiten – z. B. in der Rüstungsindustrie – zwangsverpflichten. Die Freizügigkeit der Beschäftigten war damit endgültig beseitigt.
Der Eroberungskrieg der Nazis bedeutete für viele Arbeiter den Tod an der Front. Für die deutschen Unternehmer bedeutete er, dass die Naziarmee ihnen noch billigere Arbeitskräfte zutrieb: Bald waren bis zu einem Fünftel aller Arbeitskräfte im Reich ausländische Zwangsarbeiter. Ob deutsche oder „fremdländische“ Arbeiter: Im Krieg verschärfte sich die Repression in den Betrieben noch weiter. Ab 1940 richtete der Nazistaat bis zu 200 „Arbeitserziehungslager“ ein. Hier konnten alle landen, über die bei der Gestapo gesagt wurde, dass sie zu langsam arbeiten, über die Arbeitsbedingungen meckern oder sabotieren. Zum Prügeln und Bewachen in diesen Lagern stellten die Unternehmer teilweise ihren eigenen Werkschutz ab.
Propaganda und Lehren
Die bürgerliche Propaganda soll verschleiern, was der Faschismus in Wirklichkeit war: Der offene Terror gegen die gesamte Arbeiterklasse. Der Grund dafür ist, dass viele grundlegende Fragen, vor denen die Arbeiterbewegung steht, heute dieselben sind wie vor 85 Jahren: Kann es einen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit geben? Können wir die Unternehmer noch zu Zugeständnissen zwingen, wenn die Krise ihre Profite bedroht? Was für Gewerkschaften brauchen wir?
Der Sturm auf die Gewerkschaftshäuser war nur das Ende der tragischen Sackgasse, in die sozialdemokratische Anpassungspolitik die Gewerkschaften geführt hat. Im Untergrund, im Exil, im KZ zogen Gewerkschafter und Arbeiterpolitiker aller Richtungen den Schluss, für eine Einheitsgewerkschaft zu arbeiten, die die Interessen der Beschäftigten gegen das Kapital und seine Regierung vertreten kann. Im Osten gingen sie nach dem Krieg noch weiter und schlossen beide Arbeiterparteien zusammen. Auch der frühere Anpassungsgewerkschafter Theodor Leipart wurde 1946, kurz vor seinem Tod, Mitglied der SED.