Wenn ich an meinen Großvater Richard Scheringer denke, dann überkommt mich ein Gefühl der Geborgenheit, aber auch der Entschlossenheit. Mein Großvater war ein Mensch, der andere Menschen annahm, wie sie waren. Zugleich versuchte er sie durch interessante Gespräche und gemeinsame Aktivitäten für den Kampf für eine bessere Gesellschaft zu gewinnen. Gelang ihm das nicht, so brach er trotzdem den Kontakt nicht einfach ab, solange er das Gefühl hatte, dass der Mensch anständig im Ringen mit sich und der Welt war. Meine Großeltern wurden gerne besucht, von allen möglichen Leuten. Mein Großvater hatte immer ein offenes Ohr und meine Großmutter Marianne bewirtete die Gäste. Meine Großeltern hatten elf Kinder, die alle bei ihnen auf dem Dürrnhof aufwuchsen. Ich selbst bin das vierte Kind des ältesten Sohnes Richard. Mein Großvater war für uns nicht nur kommunistisches Vorbild. Er war auch begeisterter Landwirt, Naturschützer und Jäger.
Mein Großvater hatte ein wildes Leben und vollzog eine bemerkenswerte politische Entwicklung. Aus einem nationalistischen Rebellen wurde ein überzeugter, standfester Kommunist. Gerade in der heutigen Zeit, wo wir uns fragen, wie gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft vorzugehen ist und warum so viele Menschen die AfD wählen, kann ein Blick auf die Entwicklung meines Großvaters hilfreich sein. Denn sie zeigt, dass das politische Bewusstsein eines Menschen nicht in Stein gemeißelt ist, sondern sich durch Auseinandersetzungen verändern kann.
Kindheit, Jugend und Schwarze Reichswehr
Mein Großvater wird 1904 in Aachen geboren. Seine Mutter Johanna ist die Tochter des Generaldirektors der Aachener Brauerei „Rote Erde“, der zudem ein Landgut und eine Brauerei in Bayern besitzt – von ihr hat mein Großvater seine Liebe zu Bayern. Sein Vater Ernst Scheringer ist Hauptmann beim 40. Hohenzollernschen Füsilierregiment. Von ihm erbt mein Großvater wohl die preußischen „Tugenden“ wie Treue, Kameradschaft, Pflichtbewusstsein und einen Hang zum „straff Organisierten“.
Der Vater fällt im Ersten Weltkrieg – für Sohn Richard ein Trauma, und als der Krieg mit der totalen Niederlage endet, ist der Vater für ihn ein Held, der für Deutschland sein Leben gegeben hat. Viele Mitglieder der Familie Scheringer sind sehr patriotisch und national eingestellt. Die Novemberrevolution 1918 lehnen sie vehement ab. Einerseits sind sie zwar froh, dass der Sozialdemokrat Friedrich Ebert „die Revolution von unten auffängt“ und es dadurch keine Vermögensenteignungen gibt wie in Sowjetrussland, gleichwohl sind sie jedoch eindeutig gegen dessen Regierung.
Mein Großvater und seine Mutter erleben diese Zeit in Koblenz. Das linksseitige Rheinufer und die Brückenköpfe Koblenz, Mainz und Köln sind von Franzosen, US-Amerikanern und Briten besetzt. Während es im unbesetzten Deutschland um die Frage der Durchsetzung oder Niederwerfung der sozialistischen Revolution geht, steht unter der Besatzungsmacht die nationale Frage im Vordergrund. Als Gymnasiast beteiligt sich mein Großvater an Aktionen gegen Separatisten, die eine Rheinische Republik errichten wollen, sowie gegen die französische Besatzungsmacht. 1923 stürmt er mit anderen national gesinnten Jugendlichen eine Druckerei der Separatisten. Sie werden festgenommen und obwohl sie von den deutschen Behörden nicht belangt werden, verlangen die Franzosen die Auslieferung. Mein Großvater entzieht sich der Verhaftung durch Flucht in das unbesetzte Deutschland nach Berlin, seine Mutter wird ausgewiesen. In Abwesenheit wird er im Rheinland von der Besatzungsmacht zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Die Berliner Verwandten freuen sich uneingeschränkt über das „patriotische“ Handeln ihres Neffen. Der träumt vom „Befreiungskampf“. Er lernt einen Hauptmann a. D. kennen, der ihn und einige Schulkameraden für eine militärische Ausbildung in den Ferien anwirbt. So kommt Richard Scheringer in die Schwarze Reichswehr – von der offiziellen Armee ausgerüstete, bewaffnete und unterstützte Formationen, die nach dem Versailler Vertrag gar nicht existieren durften. Die Ausbilder stammen aus den Freikorps, die zur Niederschlagung der Arbeiterbewegung gegründet worden waren. Durch Schliff, Druck und Lob wird nationalistisches Denken gefestigt. Hier in der Schwarzen Reichswehr kursiert auch der Name Adolf Hitler. Den Putschversuch des der Schwarzen Reichswehr angehörenden Majors Bruno Ernst Buchrucker am 1. Oktober 1923 macht mein Großvater mit – ohne zu wissen, was vorgeht. Der Aufstand der Arbeiter unter der Führung von Ernst Thälmann in Hamburg im selben Monat dringt nicht in das Bewusstsein des jungen Scheringer ein, ebenso wenig wie die gemeinsamen Landesregierungen von KPD und SPD in Thüringen und Sachsen, die Reichspräsident Ebert durch die Reichswehr gewaltsam auflösen lässt. Zu sehr ist mein Großvater gefangen in seinem bürgerlichen, patriotischen und nationalen Umfeld.
Er zieht eine andere Erkenntnis aus seinen persönlichen Erlebnissen. Eine Befreiung Deutschlands geht nicht gegen die Reichswehr. Daher tritt er nach dem Abitur in die Reichswehr ein. Er wird Offizier und wirbt in der Truppe für eine nationale Bewegung gegen das „Versailler Diktat“ und die „Erfüllungspolitik“ und für den Sturz der Regierung. Mit seinen Offizierskameraden und besten Freunden Hanns Ludin und Hans Wendt knüpft er Kontakte zu nationalen Kreisen, zum Stahlhelm und zur NSDAP. Obwohl die Arbeiteraufstände – wie etwa der Kampf der Kommunisten im Berliner Wedding – Eindruck machen, folgt daraus keine politische Neuorientierung, denn der Internationalismus ist ihnen fremd – sie wollen eine „nationale Revolution“. Mit SA-Leuten dagegen werden enge Beziehungen aufgebaut. Großen Eindruck macht das kleine Büchlein „Brechung der Zinsknechtschaft“ von Gottfried Feder. Schließlich erklärt sich die „Reichsleitung“ der NSDAP zu einer Zusammenarbeit bereit – dann fliegt die Sache auf.
Auf einer Offiziersbesichtigung am 10. März 1930 werden mein Großvater und Ludin festgenommen. Wendt, der inzwischen die Reichswehr verlassen hatte und Adjutant des SA-Führers West war, ist schon verhaftet. Sie werden angeklagt und es kommt zum legendären Reichswehrprozess. Die Verteidiger – namentlich der spätere Nazi-Herrscher im polnischen „Generalgouvernement“, Hans Frank – drängen darauf, Hitler in den Zeugenstand zu berufen, um zu zeigen, dass die NSDAP „streng legal“ sei. Im Prozess wird Hitler dann tatsächlich seinen Legalitätseid schwören und beteuern, dass er eine Zersetzung der Reichswehr und Hochverrat niemals dulden würde.
Anfang Oktober 1930 wird das Urteil verkündet. Die drei Angeklagten Wendt, Ludin und Scheringer werden wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Ludin und Scheringer werden aus der Reichswehr ausgestoßen. Scheringer und Wendt kommen auf die preußische Festung Gollnow; Ludin ist Badener und kommt nach Rastatt.
Erste Kontakte zur KPD
Auf der Festung Gollnow sind sehr viele Kommunisten eingesperrt. Die Haftbedingungen sind locker. Tagsüber sind die Zellen aufgeschlossen, sodass sich die Gefangenen besuchen können. Es wird diskutiert und Karl Marx gelesen, aber auch nationalsozialistische Schriften. Meinem Großvater kommen immer mehr Zweifel, ob die Nazipartei es ernst meint mit dem Sozialismus und der nationalen Befreiung. Die Kommunisten tun das Ihrige, um Hitler und die NSDAP zu entlarven als das, was sie sind: Faschisten und Antisemiten, die den Kapitalismus aufrechterhalten. Schließlich schmiedet Scheringer mit den Kommunisten einen Plan: Er beantragt Hafturlaub zur Vorbereitung seines der Haft nachfolgenden Studiums und soll versuchen, Joseph Goebbels und andere Nazigrößen zu treffen, um aus erster Hand zu hören, was Hitler und die NSDAP vorhaben. Mein Großvater erklärt den Festungsgefangenen: „Wenn ich auf meiner Reise feststelle, dass Hitler recht hat, dann pfeife ich, wenn ich zurückkomme ‚Die Fahne hoch‘.“ „Und wenn er nicht recht hat?“, fragt ihn ein Mitgefangener. „Dann pfeife ich die ‚Internationale‘“, erwidert er. Nach einem kurzen Abstecher zur Mutter und zur Universität fährt er gleich in das Büro der NSDAP in Berlin. Dort trifft er Goebbels. Der bietet ihm nach der Haft eine Stelle als persönlicher Privatsekretär an. Sie verabreden sich für den Nachtzug nach München und unterhalten sich die halbe Nacht. Goebbels hält von der Sozialisierung der Wirtschaftsunternehmen wenig und die „Abschaffung der Zinsknechtschaft“ hält er für abwegig. Meinem Großvater missfällt auch Goebbels stetes teuflisches Grinsen. In München besuchen sie das neue „Braune Haus“ in der Brienner Straße – ein Palais. Ernst Röhm bietet meinem Großvater einen Posten bei der SA an und klärt ihn darüber auf, dass Hitler die Reichswehr intakt ins „Dritte Reich“ überführen wolle. Beim kurzen Zusammentreffen mit Hitler erklärt dieser, dass seine Partei bei der letzten Wahl um den Sieg betrogen worden sei und beschwört den Wahlsieg bei der nächsten Wahl und damit die Machtübernahme. Dann fabuliert er von der Volksgemeinschaft, in der „Jedem das Seine“ gegeben werde. Die „nationalsozialistische“ Bewegung werde die deutsche Nation sein.
Auf der Rückreise zur Festung durchdenkt mein Großvater alles noch einmal und fasst seinen Entschluss. Als er an der Festungsmauer entlang marschiert, sieht er oben Licht. Er pfeift erst „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ und dann eine ganze Strophe von „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“. Von oben kommt ein „Rot Front“.
Mein Großvater schließt sich der proletarischen Kampfbewegung an. Er trifft sich in Gollnow mit dem kommunistischen Abgeordneten Hans Kippenberger. Der ist bereit, eine Erklärung Scheringers im Reichstag zu verlesen. Gleichzeitig warnt er, dass die kommunistische Bewegung keine Posten zu vergeben habe. Aber um Posten geht es meinem Großvater ganz und gar nicht – es geht ihm um den Kampf gegen und die Warnung des Volkes vor Hitler. Am 14. März 1931 schreibt Richard Scheringer der Reichsleitung der NSDAP einen Brief, in dem er sich vom Faschismus lossagt. Am 18. März 1931 wird eine Erklärung an die kommunistische Reichstagsfraktion übersandt und im Reichstag verlesen. Sie schließt mit dem Satz „Ich reihe mich als Soldat ein in die Front des wehrhaften Proletariats.“ Er tut dies trotz der Tränen der Mutter und der Enttäuschung der Verwandten.
Nochmalige Verurteilung und Überleben im Faschismus
Anders als seine besten Freunde – Wendt hat sich den „revolutionären“ Nationalsozialisten um die Gebrüder Strasser angeschlossen und Ludin geht nach seiner Begnadigung durch den Reichspräsidenten zur SA – bleibt mein Großvater bei seiner Entscheidung. Sofort nimmt er die Arbeit für die kommunistische Bewegung auf, schreibt Flugblätter und Artikel. Einige der Flugschriften werden vom Oberreichsanwalt als „hochverräterisch“ angesehen. Das gibt ein neues Verfahren und eine kostenpflichtige Verurteilung zu zwei Jahren und sechs Monaten Festungshaft wegen fortgesetzter Vorbereitung zum Hochverrat. Der Kommunist Scheringer bleibt also in Haft und gleichzeitig kann Ludin frei im ganzen Badener Land für die SA werben. Die Haft erspart meinem Großvater zumindest die direkte Konfrontation mit den Nazis bei deren Machtübernahme am 30. Januar 1933 – die siegesbesoffenen Faschisten hätten mit dem Abtrünnigen sicher kurzen Prozess gemacht.
Richard Scheringer bleibt seinem eingeschlagenen Weg treu. Während der Herrschaft des Faschismus unterstützt er illegale kommunistische Gruppen und andere Widerständige. Mehr als einmal fällt er durch die Maschen des faschistischen Terrornetzes. Sei es durch seine enge Freundschaft mit Ludin, der inzwischen SA-Obergruppenführer Südwest ist, sei es durch das Glück, zur rechten Zeit weggesperrt zu sein, sei es aufgrund seiner neuen Stellung als Erbhofbauer und Familienvater in Bayern oder auch, weil er sich im Krieg freiwillig an die Front meldet: Er, der Kommunist, überlebt den Faschismus, ohne emigriert zu sein – ein Glück, das zahllose seiner Genossinnen und Genossen nicht erleben durften.
Gründungsmitglied der DKP
Nach Krieg und US-amerikanischer Gefangenschaft kommt mein Großvater zurück nach Bayern, wird als KPD-Vertreter erst Staatssekretär beim bayerischen Landwirtschaftsminister und dann über die KPD-Liste in die Verfassunggebende Versammlung gewählt. 1952 schreibt und veröffentlicht er mit seinen Genossinnen und Genossen ein Programm zur nationalen Wiedervereinigung, für das sie verurteilt und eingesperrt werden. Nach dem KPD-Verbot 1956 setzt er in der Illegalität den kommunistischen Kampf fort und ist 1968 Gründungsmitglied der DKP. Auf dem Parteitag der DKP 1986 in Hamburg hält er seine letzte Rede, in der er die Jungen auffordert, das Banner, wenn es den Alten aus den Händen entgleitet, hineinzutragen in das neue Jahrtausend. Tags darauf bricht er mit einem Schlaganfall zusammen und stirbt wenige Tage danach im Krankenhaus.