China und der Westen – Aufstiege und Abstiege

Vom Entwicklungsland zur globalen Nummer 1

Im Kölner PapyRossa Verlag erschien kürzlich Wolfram Elsners neues Buch „China und der Westen – Aufstiege und Abstiege“. Elsner gibt darin einen Überblick über die 4.000-jährige Geschichte Chinas, in der das Land die meiste Zeit weltweit führend in allen Bereichen war. Er beschreibt Aufstiegs- und Abstiegstendenzen, die als sich selbst verstärkende Mechanismen für Veränderungen der internationalen Kräfteverhältnisse sorgten. Sein Schluss: Der Aufstieg der Volksrepublik China stellt die geschichtliche Normalität wieder her, die durch die imperialistische Ausplünderung Chinas seit Mitte des 19. Jahrhunderts durcheinander gekommen war. Gleichzeitig stiegen die imperialistischen Mächte ab, allen voran der US-Imperialismus – nicht weil China aufsteigt, sondern weil sie nicht (mehr) in der Lage sind, ihre inneren Widersprüche zu lösen. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung des Verlags einen Auszug in redaktioneller Bearbeitung.

Für die meisten Entwicklungsländer, „Schwellenländer“ („newly industrialized countries“), aber auch die meisten sogenannten „Transformationsökonomien“ Mittel- und Osteuropas, vor allem und anscheinend paradox, soweit diese Mitglieder der EU geworden sind, ist ein stabiles längerfristiges überdurchschnittliches Wachstum kaum noch erreicht worden. Typischerweise gehen vielmehr Wachstumsphasen einher mit Strukturbrüchen mit mindestens ebenso starken und langanhaltenden Einbruchsphasen. Insgesamt hat damit auch die Volatilität der globalen Entwicklung zugenommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem seit der neoliberalen Restauration frühkapitalistischer Macht- und Verteilungsverhältnisse seit den 1970er Jahren, innerhalb der führenden nationalen Ökonomien ebenso wie in den internationalen Beziehungen, ist es nur noch Südkorea und China gelungen, aus dem Kreis der armen Entwicklungsländer aufzusteigen. Nur einzelne andere Länder (etwa Vietnam, zeitweise wohl auch Indien) haben später einen Weg für einen organisierten Aufholprozess geschafft. Alle anderen ehemaligen Entwicklungsländer sind im Kreis der Niedrigeinkommensländer verblieben, einige wenige haben es zu „Schwellenländern“ gebracht.

Verhinderter Aufstieg

Wie erwähnt sind daher viele Länder, nach anfänglich – nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 1970er Jahre hinein – ermutigenden Befreiungs-, Entkolonialisierungs- und Aufstiegserfolgen, im oligopolistisch verhärteten neoliberalen System steckengeblieben. Das Phänomen des „Steckenbleibens“ (der „Middle-Income Trap“) ist wie erwähnt eine Falle, in die Länder geraten, die bereits bis auf ein im internationalen Vergleich „mittleres“ Durchschnittseinkommen und ein entsprechendes Konsumniveau aufgestiegen sind, wenn auch oft nur durch Ausverkauf ihrer natürlichen Ressourcen an die führenden Industrieländer. Bei diesem „mittleren“ Einkommens- und Konsumniveau und seinem erwarteten Wachstum kann aber die Produktivitätsentwicklung nicht mehr hinreichend gepflegt werden, denn das relativ hohe durchschnittliche Einkommensniveau wird dann typischerweise zunehmend Gegenstand von Verteilungskämpfen und Umverteilungsprozessen nach oben, bei sich wieder vergrößernder Armut. Diese Polarisierung spiegelt sich aber im durchschnittlichen statistischen Einkommen nicht wider.
Diese Länder werden dann strukturell von den Importen aus den führenden kapitalistischen Ländern, bemerkenswerterweise nicht zuletzt auch industrieller Agrarprodukte und Lebensmittel aus den USA und der EU, abhängig, und ihre Exporte bleiben auf qualitativ geringem Niveau: primäre Produkte (Ressourcen) und wenig verarbeitete Waren. In der Folge stagnieren typischerweise nicht mehr nur ihre Produktivität und Innovation, sondern auch ihre absolute Produktion, sinkt oft sogar die Produktivität wieder, steigt die Inflationsrate und verfällt ihre Währung.

Dies alles hat, wie schon angedeutet, nicht zuletzt seinen Grund darin, dass in tendenziell bereits oligarchisch strukturierten und beherrschten Ländern, Gesellschaften und Ökonomien schon in ihrem frühen Aufstiegsprozess vor allem ihre alten Latifundien- und neuen Finanzeliten überproportional reich werden können, während eine originäre Industrieelite schwach bleibt und mehr egalitär und sozialrevolutionär ausgerichtete Parteien oder auch Gewerkschaftsbewegungen mehr oder weniger brutal unterdrückt werden. Imperial unterstützte oder orchestrierte Militärputsche und Staatsstreiche sind dabei stets das probate Mittel der Lenkung der lateinamerikanischen, afrikanischen und lange Zeit auch südostasiatischen „Hinterhöfe“ der alten Kolonial- und neuen Imperialmächte gewesen.

So entstanden oder wiedererstanden schon in frühen Phasen eines möglichen „catching up“ (Aufholens) neue alte Latifundien-, Minen- und Finanzeliten, die ihr überschüssiges Geldkapital meist postwendend in den Finanzzentren der führenden Staaten (Wall Street oder City of London) spekulativ anlegten, statt in die langfristige nationale Entwicklung zu investieren. Für ein Investieren in eine längerfristige nationale Entwicklung fehlten ihnen typischerweise auch jegliche Vorstellung, sozialökonomische Vision, jegliche organisatorische Handlungsfähigkeit und jeglicher Handlungsanreiz.
Nicht zufällig ging dieser Entwicklungsweg unter in einem umfassenden System von Geldflüssen und Korruption, vom Verhältnis der alten globalen Zentren und ihrer herrschenden Klasse zu den jeweiligen nationalen „Kompradoren“ bis zum Verhältnis dieser Kompradoren zu ihren inländischen Vasallen, bis hinunter in die Favelas der Ärmsten der Armen. Mit diesem System und seiner sozialen Desintegration und Deprivation ist zugleich ein umfassendes System der Drogenökonomie und der Kriminalität, von Mord, Totschlag, Angst und Misstrauen entstanden, durch das am Ende jegliche Hoffnung auf eine Rückkehr auf einen ordentlichen, zivilen und progressiven nationalen Entwicklungspfad zunichte gemacht wird.

Sanktionsregime

Und wo soziale Revolutionen dann doch versucht werden, ist das Imperium stets sofort zur Stelle, diese zu belagern, zu sanktionieren, auszuhungern und zu unterminieren. Es ist kein Zufall, dass der Prototyp derart strukturell abhängiger und abgehängter Länder vor allem im US-„Hinterhof“ in Lateinamerika, aber zum Teil auch noch im allmählich aufbrechenden Afrika und nur noch seltener und abgeschwächter im deutlicher im Aufbruch befindlichen Südostasien zu finden ist.

Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass das ganze Sanktionsunwesen im Übrigen völkerrechtswidrig, also mit der UN-Charta unvereinbar ist. Für internationale Streitigkeiten sieht das Völkerrecht klare Streitverhandlungsmechanismen vor. Aber seine frühere bürgerlich-anständige, zivilisierte Phase hat der Kapitalismus in seiner hegemonial-imperialen finanzialisierten Periode längst hinter sich …

Hinterhofökonomie

So fragt zum Beispiel der frühere brasilianische Wirtschaftsminister und heutige Ökonomieprofessor Luiz Carlos Bresser-Pereira, warum unter dem globalen Regime der Handelsliberalisierung etwas für einige Länder Ostasiens funktionierte, was es für Lateinamerika offenkundig nicht tat. Während in China und einigen „Tigerstaaten“ (Südkorea, Singapur) die durchschnittlichen Wachstumsraten 1960 bis 1980 in Höhe von 4,7 Prozent im Zeitraum 1991 bis 2014 sogar noch weiter auf 5,3 Prozent stiegen, sackten sie in Lateinamerika (Brasilien, Argentinien, Mexiko, Kolumbien) zwischen diesen beiden Perioden von durchschnittlich 3,0 Prozent auf 1,2 Prozent ab.

Im Ergebnis miteinander verbundener, eben „systemischer“ Gründe und Mechanismen flossen „Ersparnisse“ Lateinamerikas eben ins Ausland, während China die heimischen Ersparnisse und damit Investitionsmöglichkeiten förderte, die Vermögensbildung auch der entstehenden Reichen regulierte und die Gewinne der staatlichen wie privaten Firmen in die Investitionsverwendung und nicht zuletzt in den Infrastrukturaufbau zwang. Lateinamerikas Industrie- und Technologieentwicklung konnte in seiner imperialen Abhängigkeit international nicht konkurrenzfähig werden, so Bresser-Pereira, während Chinas Industrie- und Technologieproduktion sowie Infrastrukturen und „Humankapital“ heute an der Spitze der Länder liegen.

Aber es sind darüber hinaus doch eben sehr diverse Länder, neben Brasilien, Argentinien, Mexiko oder Kolumbien auch so unterschiedliche Länder wie Südafrika, Ägypten, Thailand, die Ukraine oder eben auch viele der neueren, peripheren EU-Mitgliedsländer, die ehemaligen „Transformationsökonomien“, für die in der EU offenbar nur der Weg in strukturelle Abhängigkeiten von den Zentren der EU (Deutschland und Frankreich) offen stand. Sie alle sind im „Sumpf“ nationaler autoritärer Oligarchien, die meist in verschiedenen „Finanzbeziehungen“ mit Regierungen und Konzernen der führenden Staaten stehen, steckengeblieben.

Das westliche Versprechen des Aufstiegs – der sozialen Aufstiegsmobilität im Innern „vom Tellerwäscher zum Millionär“ oder vom Arbeiter-Vater zum Angestellten-Sohn oder des „Marathonlaufs des Aufholens“ für ganze Länder – wird daher heute sowohl in der sozialen Mobilitätsforschung wie in der internationalen Ungleichheits- und Entwicklungsforschung als unrealisierbar erkannt. Im internationalen Bereich wird stattdessen von einer Hierarchie zweier verfestigter Blöcke von Ländern, „oben“ und „unten“, gesprochen, zwischen denen kaum noch eine Aufstiegsmobilität stattfindet. China bildet hier die große historische Ausnahme.

Erneute Aufbrüche

Allerdings ändert sich die Welt insbesondere seit den 2010er Jahren massiv und schnell und das jahrzehntelange neoliberale Hegemonialsystem dominiert die Welt nicht mehr ohne Weiteres. Neue Aufbrüche finden statt und neue Allianzen entstehen, in denen der Westen keinen oder nur noch einen schwindenden Einfluss hat, wie die BRICS-Ländergruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), wie heterogen und brüchig diese auch immer sein mag, die erwähnte SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit), die ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen), die ebenfalls erwähnte RCEP (Freihandelsabkommen zwischen den ASEAN-Staaten und fünf weiteren Ländern) und vor allem die Neuen Seidenstraßen (BRI) mit ihren über 140 Partnerländern und über 40 internationalen Partnerorganisationen sowie ihren regelmäßigen Arbeitskonferenzen nach Kooperationsregionen, etwa mit Afrika, wodurch sich nun große Teile Afrikas erstmals industrialisieren können, oder mit einer Reihe von mittel-, ost- und südeuropäischen Ländern. Wodurch nun auch Teile Lateinamerikas gewisse infrastrukturelle Neuanfänge wagen können und Südostasien nun unübersehbar und (soweit absehbar) unaufhaltsam zur führenden Wirtschaftsregion der Welt wird.
Seit mehr als 30 Jahren ist es übrigens chinesisch-afrikanische Tradition, dass der chinesische Außenminister seine erste Reise im Jahr in afrikanische Länder unternimmt.

Und dies alles hat nicht zuletzt mit dem aufgestiegenen China, der neuen und künftigen Nummer 1, zu tun. Wir haben oben deutlich gemacht, dass der nachhaltige und zunehmend stabile Aufstieg Chinas von einem der ärmsten Entwicklungsländer zur Nummer 1 historisch und global betrachtet eine ganz große Ausnahme war, die damit nun umso mehr untersuchungsbedürftig wird: Warum und wie konnte es gelingen?

Aufstiegsbedingungen

Nun, vor 50 Jahren noch hätten die meisten der damals jüngeren Generation auf die Frage nach dem „Warum und wie?“ die Antwort gegeben: „Sozialismus natürlich!“ Die meisten von denen sind dann allerdings angesichts der Beseitigung des europazentrierten Staatssozialismus sprachlos geworden, wenn sie sich nicht ganz auf die Seite des neoliberalen Finanzkapitalismus geschlagen haben; denn bei den (vorübergehenden) Siegern der Geschichte ließ es sich besser, bequemer und wärmer leben. Und parlamentarische Mandate, ministerialbürokratische Posten und gelegentlich ein Ministersessel sprangen dabei auch schon mal heraus.

Unterhalb der Schwelle der pauschalen „Sozialismus“-Formel sollten heute dringend auch Nichtsozialisten, Nichtmarxisten, Nichtlinke verstehen, was China anders macht, was es gelernt hat vom Schicksal der Länder des ehemaligen sowjetischen Systems, was es anders und, unter veränderten Umständen, besser gemacht hat und macht, wie es „Produktionsverhältnisse“ geschaffen hat, die die „Produktivkräfte“ auf neue, ungekannte Weise und in ungekannten Ausmaßen mobilisiert haben. Und dass es dabei auf einem Weg ist zu einem Sozialismus, den man so noch nicht gekannt hat …

Uns kommt es also im Weiteren nicht so sehr auf „das System“ und seine Charakterisierung auf höchstem Abstraktionsniveau an, sondern darauf, wie die konkreten Mechanismen im heutigen China aussehen und erfolgreich sein können.

2913 Buch - Vom Entwicklungsland zur globalen Nummer 1 - China, Politisches Buch - Theorie & Geschichte

Wolfram Elsner:
China und der Westen – Aufstiege und Abstiege
Vom alten Reich der Mitte zum gegenwärtigen Konflikt
PapyRossa Verlag Köln 2022, 271 Seiten, 22,- Euro
Zu beziehen unter uz-shop.de

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"Vom Entwicklungsland zur globalen Nummer 1", UZ vom 22. Juli 2022



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