Am 22. Februar 2023 jährt sich zum achtzigsten Mal der Jahrestag der Hinrichtung von Sophie Scholl, Hans Scholl und ihren Mitstreitern durch die deutschen Faschisten, nachdem der aus Berlin herbeigerufene berüchtigte Richter Freisler 1943 nach kurzer Tagung das Todesurteil gesprochen hatte: „Das Urteil stand schon vor dem Prozess fest, der Prozess selbst eine einzige Farce.“
Die jungen Menschen hatten sich zum Widerstand gegen das faschistische Regime entschlossen – Flugblätter verbreiteten sie zu diesem Zweck an der Münchener Universität – und gaben dafür ihr Leben. In einer eindringlichen und berührenden Erzählung mit dem Versuch, die Beziehungen der vorgestellten Schicksale in mehrere Bereiche der europäischen Geistesgeschichte zu finden und zu erklären, geht der bekannte und gestaltungsmächtige Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai, auch mit groß angelegten Biografien über die Bachs, Luther, Dürer und anderen erfolgreich, dem Weg Sophie Scholls in den Widerstand nach. Die Beschreibung folgt Sophie Scholl vom Kindesalter bis zu ihrer Zeit als Studentin in München. Zahlreiche andere Biografien werden tangiert, ohne dass biografische Details bestimmend wären. Wichtig war für den Autor vor allem die geistige Entwicklung und die daraus abgeleitete moralische Haltung.
Als nachahmenswertes Beispiel hatte Sophie ihren Vater vor Augen, der verglich die Nationalsozialisten „mit dem Rattenfänger von Hameln und sieht in ihnen die Geißel Deutschlands“. Doch Sophie, wie ihre Geschwister, folgten diesen Ansichten anfangs nicht, sondern hatten entgegengesetzte Vorstellungen: In ihr Tagebuch von 1933 trug Sophies Schwester Inge den Wunsch ein, Hitler – „riesenhaft“ –, Hindenburg und „eine braune Armee“ stellten sich Kommunisten und Marxisten abwehrend entgegen. Sophie war zu der Zeit erst elf Jahre alt. Doch sind ihre Wünsche ähnlich; sie erfasst die Begeisterung „für Hitler, für den Führer, der verspricht, die Deutschen aus Erniedrigung und Not zu führen“.
In der Familie Scholl entstehen Fronten, Kinder gegen Eltern. Die Konfrontation führt zur Polarisierung; die Kinder werden Mitglieder der Hitlerjugend und des „Bundes Deutscher Mädel“ (BDM), begeistern sich und erweisen sich als folgsame Zöglinge. Besonders Sophie wird von den Mädchen im BDM wegen ihrer „Radikalität“ gefürchtet; sie setzt in der von ihr geführten Jungmädchenschar eiserne Disziplin durch. Doch der inzwischen alles terrorisierende Gemeinschaftsgedanke verdrängt die Rechte des Individuums; Sophie und Hans Scholl beginnen zu begreifen, dass ihre Herkunft aus der Bewegung der Bündischen mit dem Anspruch des Individuums auf eigene Entscheidungen sie in Widerspruch bringt zur herrschenden faschistischen Theorie von der Masse. Klaus-Rüdiger Mai geht diesem Ansatz nachdrücklich und konsequent nach, vor allem geistigen Einflüssen von Kant über Schiller und Hölderlin, schließlich auch von Augustinus, George und Rilke folgend. Es waren Literatur und Philosophie, die die Kinder der Familie Scholl an die Eltern banden, sie zunehmend in Widersprüche verwickelten, die, anfangs kaum bemerkt, schließlich dominierend und ausgetauscht werden: Um den Weg Sophies in den Widerstand zu verstehen, „muss man einen genaueren Blick auf die Entwicklung ihres Bruders werfen“. Dazu kommt die zeitbedingte Abhängigkeit der Geschwister Scholl von den Ideen des Bündischen und der dazu polemisierenden „dj1.11“, der „Deutschen Jungenschaft“, gegründet am 1. November 1929, die aus Wandervogel- und Pfadfinderbewegung hervorgegangen ist. Hier vermisst der heutige Leser eine zusammenfassende Behandlung der Bündischen und der Differenzierungen, die heute kaum im gesellschaftlichen Bewusstsein als bekannt vorausgesetzt werden können.
Der Autor strebte keine Biografie an, sondern vielmehr ein Protokoll der geistesgeschichtlichen Entwicklung der literarischen Hauptgestalt Sophie Scholl von ihrer Kindheit bis zur Hinrichtung am 23. Februar 1943 als Widerstandskämpferin gegen den NS-Faschismus, ein „kurzer mäandernder Weg“. Von der Biografie wurden dafür Schnittstellen zwischen Positionen und Verläufen entnommen, die Sophie Scholl von der BDM-Führungsgestalt, die auch die Familie spaltete, zur Widerstandskämpferin werden ließ, die ihren Kampf mit dem Leben bezahlt.
Biografisch stützte Klaus-Rüdiger Mai sich auf umfangreiches Material, ausgewiesen in einem Verzeichnis der benutzten Literatur. Eine besonders tragfähige Grundlage bildete dabei Barbara Beys Biografie „Sophie Scholl“ (München 2019). Klaus-Rüdiger Mai bietet zu dieser Biografie eine intensiv verfolgte, punktuell geordnete geistesgeschichtliche Entwicklung Sophie Scholls mit Ausblicken auf die gesamte Familie und den Freundeskreis. Dokumente wie Briefe, Protokolle und familiäre Dokumente verstärken die Eindringlichkeit des Werkes.
Dass Mais neues Buch nicht nur zur Erinnerung aufrufen möchte, sondern den aktuellen Bezug sucht, wird deutlich, wenn zu Beginn auch die gegenwärtig agierende, widersprüchlich betrachtete „Letzte Generation“ genannt wird und ins Wertesystem von Missbrauch und „unbedingter Widerständigkeit“ gestellt wird. Die für Sophie Scholl in Anspruch genommenen Leitbegriffe – „Schlüsselwörter“ – haben nichts von ihrer Bedeutung verloren, sind allenfalls in unserer schnelllebigen Zeit überlagert worden: „Fleiß, Charakter, Wahrhaftigkeit, Geduld, unverbildete Anschauung“. Hinzuzunehmen wäre die „soziale Verantwortung“, der vom Autor wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil sie im Kreise der Scholls nicht dominierend war.
Für das namens- und titelreiche Buch wäre ein Register nützlich und hilfreich gewesen.
Klaus-Rüdiger Mai
Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand
Bonifatius, Paderborn 2023, 192 Seiten, 18,- Euro